Stolperstein-Verlegung vor dem Pfarrhaus MvR 169

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Stolperstein-Verlegung vor dem Pfarrhaus MvR 169
Wenn Kreise sich schließen –

Gottseidank hat es am Freitag, 4.11., nie aus Eimern gegossen. Aber ab 14:15 h hat’s fast immer genieselt. Zur Stolpersteinverlegung kamen ca. 40 Nachbarn, Interessierte sowie einige Offizielle (GKR-Vorsitzender, Parkring-Vorstand, Stolperstein-Koordinatorin und Bezirks-Bürgermeister).

Pfarrer Stephan Schaar begrüßte die überschaubare Schar vor seinem Haus, Steinsetzer Peter Frank hämmerte das Pflaster vom Bürgersteig auf, Harry Timmermann (Harry’s Freilach! Klezmer tov.) musizierte mit seinem Akkordeonisten traumhaft und einfühlsam.

Hier schließt sich ein Kreis: alles ging sich – wie gehofft - miteinander aus: Regen, Grußwort, Kerzen, Musik, Handwerk, Blumen und Bericht ergaben eine gute, gemeinsame Stunde!

Mehrmals in unserer kleinen open-air-Zeremonie hat mich tief angerührt, dass die in Melbourne lebenden Verwandten hatten uns gemailt hatten, zeitversetzt zur gegebenen Uhrzeit ein Gebet zu sprechen für sich, ihre Sippe wie für uns, die Be-Sucher:innen ihrer Familie. Trotz der erniedrigenden, feigen und nun etwas aufgedeckten Vergangenheit trägt unser Nachsinnen, unser Gebet, unsre Betroffenheit. Einmal um die Erde herum wächst ein zweiter Kreis, wie es Pfarrer a.D. Christian Wossidlo in seinem Buch „(Meine) Neutempelhofer Geschichte“ mit seinen Kirchen-Engeln so ja schon angedeutet hatte: eines Tages sollen hier Stolpersteine liegen! Jetzt denken wir noch über eine kleine Infotafel nach …

Vor dem Pfarrhaus einen Psalm im Wechsel beten, ein Blumen-Gesteck mit einer Grableuchte zu den Gedenksteinen an die Straße stellen, einen Stolperstein-Spaziergang im Dezember ankündigen, weiter dem Musizieren von Harry’s Freilach zuhören und mit Besuchern sprechen: all das beendet nun den Auftrag der Gemeindeleitung vom August 2019, den historischen Hintergrund des Pfarrhauses zu recherchieren, um „die entsprechenden Anträge zur Verlegung eines Stolpersteines“ vorzubereiten. Lieben Dank an alle Mitwirkende sagt abschließend

Christoph Wilcken im Namen vom ‚Stammtisch‘ der ev. Paulus-Kirchengemeinde Tempelhof

Aus dem Grußwort von Pfarrer i.R. Christian Wossidlo zur Stolpersteinverlegung vor unserem Pfarrhaus am 4.11.2022 

Vor etwa 20 Jahren tauchte der Gedanke, vor diesem Haus einen Stolperstein zu verlegen, das erste Mal auf, nämlich bei den Vorbereitungen für meine Geschichte der ev. Kirchengemeinde Neutempelhof „Mit den Augen der Engel“. Es blieb damals bei der Idee. 

In diesem Haus habe ich mit meiner Familie 36 sehr glücklich Jahre gelebt.Wir wussten von Anfang an, dass es einmal einer jüdischen Familie gehört hatte, dass sie es unter dem Druck des Nazi-Regimes verlassen musste, Deutschland verließ und der „Hausherr“ trotzdem auf tragische Weise Opfer des Terrors wurde.

In meiner Jugend – ich bin nun 85 - hat mich, wie viele anderen Gleichaltrigen auch, die Frage nach dem Holocaust begleitet. Mir war es eine Verpflichtung, an und mit diesem Thema, dem Terror und dem Antisemitismus weiter zu arbeiten.

Ein einjähriger Einsatz bei der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in den Niederlanden, Israel und Norwegen und ein einwöchiger Arbeits- und Studienaufenthalt mit einer Jugendgruppe dieser Gemeinde in Auschwitz waren Höhepunkte, die mir Eindrücke vermittelten, die ein Vergessen völlig unmöglich machten und immer wieder Antrieb waren, gegen die Pest des Rassismus anzureden.

Stolpern ist eine unangenehme Erfahrung. Vor allem alte Leute wissen das und unzählige Oberschenkelhalsbrüche zeugen davon. Deshalb gilt für uns, die alten Leute: seid aufmerksam auf eurem Weg, dass ihr nicht stolpert. Und Steine wie diese, die Stolpersteine, sagen uns: stolpert nicht, wie so viele eurer Elterngeneration in die Netze der Rattenfänger. Nehmt diese Steine immer wieder als Mahnung und Warnung.

Für die Jungen, die Kinder, ist Stolpern etwas ganz anderes. Für sie ist es eine wichtige Begleiterscheinung des Laufenlernens. Nach jedem Stolpern wird es besser. Sie lernen, die richtigen Schritte zu machen, aufmerksam zu sein und trotzdem rennen können. Sie erkennen diese Stolpersteine als Steine des Anstoßes und lernen, wohin Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Hetze führen kann. Denn die Rattenfänger gibt es ja immer noch oder immer wieder.

Dieses Haus hier ist auch ein Pfarrhaus, also ein Haus der Kirche, einer Kirche, die die vorrangige Aufgabe hat, von der Liebe Gottes zu erzählen und diese Lehre weiterzugeben. Wenn du dem Geist, aus dem Ablehnung, Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtungswillen geboren und getragen werden, widerstehst und dem Geist der Liebe statt dessen weiten Raum gibst, tust du nicht nur das Richtige und das Gute, sondern dann lebst Du unter dem Segen Gottes.

Möge uns jeder einzelne Stolperstein vor dem Stolpern bewahren. Und den Unverbesserlichen lasst uns so viele Steine, wie es geht in den Weg legen.

Es ist ein großartiges Gefühl, beim Gehen über diese Steine den Schritt etwas zu verzögern. Denn aus den vielen kleinen Gedenkminuten und -sekunden erwächst mehr Kraft und Segen, als die meisten Menschen glauben.

Gott sei Dank.

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