Am 3. Juni 2023 wurde vor zahlreich erschienenem Publikum eine neue Ausstellung im Museum Spandovia Sacra eröffnet, vgl. Blog vom 1. Juni 2023. Museumsleiterin Sabine Müller moderierte die Veranstaltung. Und die ehrenamtlichen Ausstellungsmacher*innen präsentierten in Kurzvorträgen Themen aus dem Bautagebuch-Kosmos, die sie besonders begeistert haben. Den Anfang machte Markus Lange:
Um in den Geist dieser Ausstellung einzutauchen, dürfen wir uns in Gedanken auf eine Zeitreise begeben, die fast 200 Jahre umfasst. 25 Jahre vor der Renovierung der Spandauer St.-Nikolai-Kirche ist Napoleon bei Leipzig besiegt worden und die Quadriga als Siegestrophäe der Franzosen ist inzwischen aus Paris zurückgekehrt, was uns die Redewendung „eine Retourkutsche bekommen“ bescherte. Die erste Dampflok „Adler“ hat auf deutschem Boden ihren Betrieb aufgenommen und an Strom und technischen Fortschritt ist noch nicht zu denken. Viele Berufe, die wir mit dem Baujournal nahegebracht bekamen, erhielten in jener Zeit eine viel höhere Relevanz als heute, so z. B. die Schiffer, die mit ihrer Tätigkeit und Notwendigkeit sogar die Landschaft formten.
Die Städte Spandau und Berlin besaßen bereits im Mittelalter an Havel und Spree gute Bedingungen für die Flussschifffahrt. Die Straßen in der Mark Brandenburg waren weitgehend unbefestigte Feldwege, manchmal waren sie mit Feldsteinen gepflastert. Mit der Ertüchtigung der Wasserwege ab dem 17. Jahrhundert konnte die Binnenschifffahrt ihre Leistungen für die Entwicklung Berlins bedeutend steigern.
„Berlin ist aus dem Kahn gebaut“ – dies ist nicht nur ein Spruch aus jener Zeit, sondern beschreibt, wie gut unsere Vorfahren das Wassernetz unserer Region genutzt haben und wie eng die Verbindung dieser Stadt mit ihren Flussläufen und Kanälen war. Diese sechs Worte verdeutlichen aber auch die Abhängigkeit vom Berliner Umland für die Stadtentwicklung.
Um die wachsenden Städte mit Baustoffen zu versorgen, entstanden in der umliegenden Mark Brandenburg zahlreiche Ziegeleien. 1850 erhielt Berlin 1,6 Mio Tonnen Massengüter aus dem Umland. Ziegelsteine aus Rathenow und Zehdenick, Bau- und Brennholz oder Teer aus den umliegenden Wäldern, Kalksteine aus Rüdersdorf oder landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Mecklenburg, Überseeimporte über die Elbe aus Hamburg oder Äpfel aus Böhmen, alles Lebensnotwendige wurde auf Kaffenkähnen transportiert.
In Berlin wurden diese Wasserfahrzeuge liebevoll Äppelkahn genannt. Kaffenkähne wurden ausschließlich zum Transport von Waren gebaut. Sie hatten geringen Tiefgang und lagen nur wenig über dem Wasserspiegel. Ein gut erhaltenes Exemplar aus der Mitte des 19. Jahrhundrts befindet sich noch heute im Technikmuseum. Die offenen Schiffe, die mit Baumaterial von einem Gewicht bis zu 150 Tonnen beladen werden konnten, hatten keinerlei Wohnkomfort und der Schiffer lebte neben oder unter seiner Ladung. Mit einer romantischen Schiffsfahrt hatte das wenig zu tun.
Allein auf dem Finowkanal waren in der Zeit der Renovierung der Nikolaikirche ca. 14.000 Kähne im Jahr unterwegs. Auf seiner Länge von nur 30 Kilometern wurde ein Höhenunterschied von 36 Meter durch zwölf Schleusen ausgeglichen. Alle diese Schleusen mussten noch mit Hand bedient werden.
Auch der Antrieb der Schiffe war alles andere als komfortabel. Um die bestellten Waren termingerecht zur Baustelle zu bringen, wurde gestakt, getreidelt oder bei günstigem Wind gesegelt. Beim Staken stellen wir uns vielleicht gerade unsere letzte Rundfahrt im Spreewald vor, wo wir bei sonnigem Wetter unter dem kühlen Blätterdach der Bäume den Anekdoten des Kahnfahrers lauschten. Doch stellt man sich das Staken bei Sturm und Regen und einer Ladung von 150 Tonnen vor, erhält man eine Vorstellung von den harten Arbeitsbedingungen eines Schiffers.
Auch das Treideln war alles andere als vergnüglich. Schiffe wurden in der Regel stromauf getreidelt und stromab durch die Strömung oder den Wind angetrieben. Mit Treideln bezeichnet man das Ziehen von Schiffen mit Leinen. Den Weg am Ufer, den die Schiffszieher nutzen, nannte man daher Lein- oder Treidelpfad. Die Arbeitsbedingungen für das Treideln waren sehr hart und mancherorts wurden sogar Sträflinge zu dieser Arbeit verurteilt. Im Raum Brandenburg wurden zur Entlastung der Schiffer auch Zugtiere wie Treidelpferde benutzt.
Die Recherchen zu den Personen aus dem Baujournal brachten mich bis ins südöstlich von Berlin gelegene Woltersdorf, wo noch heute Nachfahren der Schiffers Hintze in dem alten Familienhaus am Flakensee wohnen. Voller Stolz berichtete Frau D‘Hooge im Interview über die Schiffertradition und zeigte Fotos von den späteren Ausflugsdampfern ihrer Familie, die beide Weltkriege überstanden hatten und den Berlinern die vergnügte Fahrt ins Grüne ermöglichte. Mit ihren Exponaten konnte sogar eine Sonderausstellung der Woltersdorfer Schifffahrt aufgebaut werden.
Und der Spandauer Schiffer Carl Holzapfel, der in der Breite Str. 17 wohnte, lieferte im Juni 1839 für die Wände der Luken des Kirchturms 5.000 dieser gebrannten Mauersteine aus Rathenow. Noch heute können wir an alten Backsteingebäuden in Berlin den Schriftzug der Herkunftsstadt wie eine Reklame und ein Gütesiegel lesen.
Mit den Bildern vom harten Alltag eines Schiffers vor Augen bekommt man vor jedem einzelnen Ziegelstein, den man heute noch aus jener Zeit an und in der Kirche finden kann, eine Art Ehrfurcht.
Bild oben: Spandau in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Stresower Schiffbauerdamm aus gesehen.