
Wenn Tula Jackson ein Klassenzimmer betritt, geht sie manchmal auf Zeitreise in ihre Vergangenheit. Dann sieht die 27-Jährige an den Tischen nicht ihre 52 Schülerinnen und Schüler sitzen, denen sie gleich die Photosynthese oder das Periodensystem erklärt, sondern sich selbst: Einen stillen Teenager, der alles wissen will, aber nichts versteht.
„Ich war 15 und konnte nicht mal einfache Fragen beantworten“, erzählt Tula. In weiterführenden Schulen in Tansania unterrichten Lehrer nicht auf Kiswahili, sondern auf Englisch; doch mit dieser Sprache kam Tula nicht zurecht. Dass sie heute selbst Lehrerin ist, hat sie ihrem eisernen Willen zu verdanken – und den Frauen im Huruma Centre.
Als Elfjährige stand Tula eines Vormittags mit ihrer Großmutter vor dem Tor des Waisenhauses in Iringa. Ihre Eltern, beide Kleinbauern, waren kurz zuvor gestorben und hatten Tula und vier ältere Geschwister hinterlassen. Außer der Großmutter gab es niemanden, der sich hätte kümmern können – aber Schulgeld, Essen und Kleidung für vier Jugendliche und ein kleines Mädchen konnte die alte Dame unmöglich aufbringen. Tulas Geschwister brachen die Schule ab und suchten sich Arbeit; sie kam im Huruma Centre unter. Mit ihrem einzigen Besitz – einem Beutel voller Schulbücher – bezog sie ein Sechsbettzimmer und wartete.
Am Nachmittag kamen die unbekannten Kinder, mit denen sie nun zusammenleben sollte und zeigten ihr alles. Toiletten! Der riesige Speisesaal! In allen Zimmern Doppelstockbetten mit Matratzen und Moskitonetzen! Tula, die aus einem kleinen Dorf kam, lernte nicht nur eine neue Welt kennen, sondern auch ein neues Mantra: Ich kann.
„Jedes Kind im Huruma Centre sollte ein Ziel vor Augen haben; das war unseren Betreuerinnen sehr wichtig“ berichtet sie. Einen Schulabschluss, einen Berufswunsch oder wenigstens einen Traum von der Zukunft. Als sie am Englisch verzweifelte, brachte die damalige Waisenhaus-Leiterin Mama Chilewa ihr ein Wörterbuch und englische Bücher und sagte: „Move on!“ Immer wieder ließ sie Tula vorlesen und übersetzen, bis es besser wurde.
Auch ihr Umfeld motivierte sie: Die sechs Mädchen in Tulas Zimmer waren wie Schwestern, mit ihrer Betreuerin Mama Emiliana konnte sie über alles reden, was sie beschäftigte. Umso schlimmer fühlte es sich an, als sie das Huruma Centre zum Studieren verlassen musste. Eigentlich war alles perfekt: Das Centre zahlte ihr ein Zimmer und die Hälfte der Studiengebühren, später erhielt sie sogar einen staatlichen Studienkredit.
Doch die Huruma-Familie fehlte ihr sehr. Wenn ihr alles zu viel wurde, dachte sie oft an ihre Eltern. Wie hart sie auf dem Feld gearbeitet und darunter gelitten hatten, dass es trotzdem nie zum Leben reichte. „Da habe ich mir gesagt: Ich schaffe das allein deshalb, weil ich niemals so leben will.“
Move on! Ein Ziel vor Augen haben, klare Regeln und guter Zusammenhalt: Was Tula als Kind im Huruma Centre gelernt hat, gibt sie als Chemie- und Biologielehrerin nun auch an ihre Schülerinnen und Schüler weiter. Die Nummer ihrer „Mama“ Emiliana ist in ihrem Handy gespeichert und auch mit einigen ihrer Huruma-Schwestern hat sie Kontakt per WhatsApp. Manche studierten noch, eine sei Ärztin geworden, eine andere habe eine Familie gegründet, erzählt sie.
Wenn sie wie heute aus dem rund 60 Kilometer entfernten Pomerini nach Iringa kommt, schaut sie ab und an im Straßenkinderhaus vorbei. Manchmal bringt sie frische Früchte als Geschenk mit, „für meine kleinen Geschwister im Centre.“ Nein, natürlich habe sie nicht vergessen, wo sie herkommt, wer ihre leiblichen Eltern, Schwestern und Brüder sind. Aber Zuhause? „Das ist hier.“
Die AG Partnerschaft trifft sich etwa einmal im Vierteljahr, um Neuigkeiten aus Tansania zu diskutieren, Besuche zu planen und aus Ideen Projekte zu machen. Ab und an sind unsere Partner in Tansania per Video zugeschaltet. Wenn Sie mehr erfahren oder mitmachen möchten, wenden Sie sich an Oliver Neick, per Mail: neick@gustav-adolf-gemeinde.de oder Telefon 030 344 60 94.) www.cw-evangelisch.de/tansania