
Liebe Gemeinde, am Eingang haben Sie eine Bildkarte bekommen. Nehmen Sie sie gern zur Hand.
Die Zeit steht still. Scheinbar. Ein Bruchteil eines Moments, eingefangen in einem Bild. Ein Atemzug. Der Blick richtet sich empor zu einem fahlen Novemberhimmel. Kahle Zweige, die sich der Wolkendecke entgegenstrecken. Buche vielleicht und Fichte! Die Natur ruht friedlich. Schläft.
Doch da! Rechts unten kommt Dynamik ins Bild. Ein Flügel schwingt sich empor. Ganz am Rand schemenhaft der Kopf des Vogels. Oder ist es ein Engel? Einer, wie sie auf alten Friedhöfen zu finden sind. Ihre Mienen: Traurig. Ehrwürdig. Ernst. Für immer in Stein gemeißelt. Stille Hoffnungsträger auf ein Leben nach dem Tod.
Dieser Flügel hier scheint in Bewegung, nicht aus Stein, sondern lebendig. In diesem Moment schwingt er sich himmelwärts.
In einem Gedicht Josef von Eichendorffs heißt es:
Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküsst, Dass sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müsst’. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis’ die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.
„Wo ist Oma?“ fragt das Kind. Die Mutter schluckt, ringt nach einer Erklärung für das Unbegreifliche. „Oma ist nicht mehr hier. Oma ist jetzt ein Engel.“ „Ein Engel,“ wiederholt das Kind. Schon streckt sich ein kleines Ärmchen winkend zum Himmel.
Ein geliebter Mensch stirbt. Plötzlich ist er da, der Gedanke an den Engel. Manche stellen sich vor, dass der Verstorbene nun von Engeln begleitet ist. Die Engelsfigur neben dem Fotorahmen wird zum Symbol für eine neue Wirklichkeit bei Gott. Ungeheuren ideellen Wert gewinnt der kleine Bronzeengel, den die Sterbende zuletzt in ihrer Hand hielt. Auch manche Trauernde fühlt sich eigentümlich berührt, unsichtbar und sanft wie vom Lufthauch einer Engelsschwinge.
Und die Bibel? Was erzählt sie über Engel? Dort kommen Engel ungeflügelt daher. Manchmal sehr nüchtern. Mal gleichen sie gewöhnlichen Menschen. Mal treten sie eindrücklich mit Glanz und Gloria auf, so dass die Hirten auf den Feldern Bethlehems zutiefst erschrecken. Engel sind Boten Gottes. Sie bringen frohe Kunde, ernste Nachrichten und zeugen von besonderer Gottesnähe.
Jakob träumt: Eine lange Leiter. Sie reicht vom Erdboden, auf dem er liegt, bis in den Himmel hinein. Engelswesen wandeln darauf auf und nieder. Hoch und tief, schwer und leicht – Getrenntes wird verbunden. Fernes scheint nah und Gott nicht mehr fern. Ein Kuss von Himmel und Erde.
Jakob erwacht. Er begreift: Hier ist die Pforte des Himmels. Hier ist Gott. Und der Glanz von Gottes Ewigkeit leuchtet in dieses Leben hinein. Schon zu Lebzeiten lässt es sich erträumen. Erahnen.
39 Lichter leuchten hier vorn. Mit wie vielen ungezählten Erinnerungen mögen sie verbunden sein? 39 Menschen fehlen. Ohne sie ist das Leben nicht, wie es einmal war. Doch das Licht leuchtet. Es steht für Wärme, Zuversicht, Hoffnung. Die Flammen weisen nach oben.
Jesus sagte einmal zu seinen Jünger:innen: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“ (Johannes 12,32)“ Auch Jesus musste sterben. Mit diesen Worten sagte er seinen Tod voraus. Er wusste, wovon er sprach. Im Glauben ist unser Weg mit seinem verknüpft. Dieser Weg führt schließlich nach oben, wie auf unsichtbaren Schwingen.
Jesus starb jünger als die meisten unserer Verstorbenen. Mit knapp 30 Jahren fand der den Tod am Kreuz. Dort auf Golgatha erinnerten sich seine Freund:innen wieder an seine Worte: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“ Der Weg ans Kreuz, der Weg in den Tod beschreibt den ersten Schritt Richtung Himmel, näher zu Gott. Dem Evangelisten Johannes zufolge hatte Jesus ein durch und durch positives Bild vom Tod.
Ich habe in meiner Zeit als Pastorin nur wenige Menschen beerdigt, die mit einer solch positiven Haltung zum Tod sterben konnten, erfüllt von der Sehnsucht nach der himmlischen Heimat. Fast alle von ihnen waren hochbetagt und lebenssatt, blickten auf ein erfülltes Leben zurück. Sie konnten getrost loslassen, fanden in den letzten Lebensstunden Halt in ihrem Glauben, vielleicht sogar die Worte von Jesus Christus im Ohr: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“
Die wenigsten Menschen können ihren bevorstehenden Tod als gegeben annehmen, zumindest zunächst nicht. Manche wollten am liebsten rufen: „Jetzt noch nicht!“ Aus gesundem Überlebensdrang kämpfen sie gegen Krankheit und Gebrechen an, beten um Heilung, meist bestärkt von ihren Angehörigen, die um sie bangen. Würde ihr geliebter Mensch nicht am Leben hängen, sie wären wohl befremdet, zumindest in den meisten Fällen. So jedenfalls ging es den Freund:innen von Jesus. Sie wollten am liebsten verhindern, dass er starb, ganz gleich, ob er davon sprach, dies werde ihn näher zu Gott bringen.
Nearer, my God, to Thee, nearer to Thee! E’en though it be a cross that raiseth me…
Dieser Choral gilt im englischsprachigen Raum als eines der beliebtesten Beerdigungslieder. Wortwörtlich ins Deutsche übersetzt lautet der Text:
Näher, mein Gott zu dir, näher zu dir,
wenn es auch ein Kreuz sein möge, das mich erhebt…
Nicht immer bleibt Zeit, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten. Nicht immer lässt sich das Leiden abwenden. Es kann schnell gehen. Eine Katastrophe. Ein Unfall. Ein prominentes Schiffsunglück:
Als 1912 die Titanic am Sinken war, soll die Bordkapelle noch einmal zu ihren Instrumenten gegriffen haben für ein letztes Stück: „Nearer my God, to Thee.“ Die Klänge des Chorals tönten über die eiskalte See und mögen manch Verzweifelten noch einen kurzen Moment der Kraft geschenkt haben. Dann erloschen an Bord die Lichter. Der Bug senkte sich und zog das Schiff mit vielen Menschen in die Tiefe. Wie die Musiker um ihren Dirigenten Wallace Hartley es vollbrachten, angesichts ihres unmittelbar bevorstehenden Todes noch einmal „Nearer my God to Thee“ zu spielen, bewegt Menschen bis heute.
39 Lichter leuchten heute für 39 Lebensgeschichten. Jeder Lebenskreis hat sich geschlossen auf seine eigene Weise: Plötzlich oder lange absehbar. Begleitet durch Unruhe, Angst, Zuversicht, Wut, Liebe, vielleicht manchmal alles zugleich. Alle Gefühle haben ihre Berechtigung. Wie unterschiedlich sie auch gestorben sein mögen, ihnen allen gilt die Verheißung von Jesus Christus: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“
Unsere Verstorbenen sind nicht mehr unter uns. Ich glaube fest: Gott hat sie eingeladen, ihre letzte Reise anzutreten, aufzufahren wie mit Flügeln, einzugehen in das Licht seines Friedens in der Ewigkeit. Die Lichter hier erinnern daran, wie auch wir mit dieser Ewigkeit verbunden sind. Amen.