
Sie liegt da auf dem Tisch. Fast wie hingegossen. Und als öffnete sie ihre Arme einladend. Ganz offen. Als wollte sie gleich etwas sagen. So liegt sie in vielen Kirchen auf dem Altar: die Bibel. Oder ein Lektionar, in dem die Lesungen für Gottesdienste stehen. Das ist eine Einladung, die „Stimme“ der Bibel im Leben mitreden zu lassen und ihr darum auch in Gottesdiensten auf vielfältige Weise Gehör zu geben. Wenn das Buch offen bleibt, ist das ein Symbol dafür, dass wir der Bibel nicht das Wort abschneiden und sie möglichst bald zum Verstummen bringen wollen, damit endlich wir selbst ungestört reden können. Gottesdienste zielen auf Dialog: etwas von da aufnehmen, im Herzen bewegen, kritisch kommentieren, befragen – und umgekehrt unser Reden und Singen und Denken und Tun von dort her noch einmal beleuchten, anfragen und möglicherweise unterbrechen zu lassen.
Auf dem Foto vom Klausurwochenende des Kirchenvorstands liegt eine Hebräische Bibel auf dem Tisch. Nur das „Alte Testament“. Das war für die Verfasser der Briefe und Evangelien der frühen Christenheit, auch für Jesus und alle jüdischen Generationen davor die Schrift. Ein Neues Testament gab es erst einige Zeit später als weitere Sammlung.
In Gottesdiensten liegt „die Schrift“ also offen, ansprechend da oder wird geöffnet, um auf sie zu hören. Den Grund formuliert schön ein Vers aus einem Brief von Paulus an Mitarbeiter Timotheus, biblischer Monatsspruch für Februar: Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit. (2 Brief an Timotheus 3,16 ). Die Bibel oder Heilige Schrift ist nützlich wie ein guter Rat, wie eine Leuchte für den Weg, wie eine kritische Stimme, und ist kein altbackenes, staubiges Buch, das du möglichst schnell wieder zuschlägst: Klappe zu, Affe tot.
Wir wissen heute: Keine Geschichte, kein Satz, kein Gebot der Bibel wurde wortwörtlich „von Gott eingegeben“, sondern ist in bestimmten Zusammenhängen entstanden und überarbeitet worden. Dennoch habe ich mehr Zutrauen dazu, dass Gott zu uns redet, wenn wir die Schrift mitreden lassen, als wenn wir uns auf undeutliche Kundgebungen Gottes verlassen müssten wie Blitz und Donner, Naturwunder, ein Geschichtsereignis oder einzelne Personen, die beanspruchen, unmittelbar im Namen Gottes reden zu können. „Allein die Schrift“ in ihrer Vielstimmigkeit ist uns gemeinsames Gegenüber. Seien wir dafür so offen wie sie.
Pfarrer Dietmar Schmidt-Pultke