Spuren - oder die Reise nach Jerusalem

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Spuren - oder die Reise nach Jerusalem

Viele von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, kennen das Spiel: “Die Reise nach Jerusalem “. Es wird auch als Stuhlpolonaise oder-polka bezeichnet. Am Ende bleibt ein Stuhl übrig, und welcher der beiden letzten Spieler sich zuerst draufsetzen kann, ist der Gewinner. Darf er dann nach Jerusalem reisen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich gerne dorthin fahren würde. Das Heilige Land steht ganz oben auf meiner to-do-Liste, die ich spaßeshalber nach meiner Pensionierung aufgestellt habe, aber auch mit der Ahnung, dass in meiner verbleibenden Lebenszeit manche Dinge nicht mehr realisierbar sind. Einmal durch Jerusalem schlendern, einmal die Stätten im Heiligen Land sehen, die ich, die wir aus der Bibel kennen, einmal auf den Spuren Jesu wandern. Einmal auf der Via Dolorosa, dem Schmerzens- oder Leidensweg durch Jerusalem pilgern, das möchte ich schon gerne. Es ist der Weg, den Jesus nach seiner Verurteilung durch Pontius Pilatus auf Veranlassung des Sanhedrin, des Hohen Rates, gezwungen war zu gehen, das Kreuz auf den Schultern, zumindest den Querbalken. Und nach Jesu Zusammenbrechen musste ein gewisser Simon von Cyrene das Holz zur Kreuzigungsstätte, gelegen auf dem Hügel Golgatha, übernehmen. Natürlich an einem Karfreitag würde ich diesem Geschehen nachspüren, den Stationen begegnen wollen. Auf diesem Kreuzweg, diesem kleinen Pilgerweg. Seine Ursprünge gehen auf die Zeit der Kreuzfahrer zurück. Der Begriff „Via Dolorosa“ wurde 1573 durch den Franziskaner Bonifaz von Ragusa geprägt; Bonifaz kannte allerdings nur vier Stationen. Seine franziskanischen Brüder entwickelten die heutigen 14 Stationen des Weges. Davon liegen 8 auf der Straße, 6 vor, auf bzw. in der Grabeskirche.

Es war nicht etwa so, dass die heutige Via Dolorosa von europäischen Heilig-Land-Pilgern in ihre Heimatländer gebracht und dort als Kreuzweg nachgebaut wurde, sondern umgekehrt: der Kreuzweg war eine besondere, in Europa entwickelte Andachtsform, den die Pilger bei ihrem Jerusalembesuch zu sehen erwarteten: „Die Kreuzwegandacht ist in Europa entwickelt worden und findet sich in der Via Dolorosa in Jerusalem verwirklicht.“ (Zitat).

Die heutige Realität sieht etwas anders aus. Wir wissen nicht, ob Jesus diesen Weg gegangen ist, es sind tradierte Überlieferungen, keine gesicherten Tatsachen. Vermutlich verlief der damalige Weg Jesu in eine andere Richtung. Auch liegt der heutige Boden der Straße 14 Meter über dem damaligen Horizont. Lediglich der Hügel Golgatha lässt sich historisch bzw. geografisch genau zuordnen. Auf tik-tok und auf youtube kann man sehen, wie sich an Karfreitag unzählige pilgernde Menschen auf der Via Dolorosa in eine Richtung bewegen, eher geschoben werden, so dass kaum Gegenverkehr möglich ist. Und ich erinnere mich an die Antwort eines reisefreudigen Prädikantenkollegen, der mir auf meine Frage, ob er schon einmal dort gewesen sei, sagte, dies interessiere ihn nicht sonderlich, es sei eben nicht mehr das Land, das man aus der Bibel kennen würde. Heute (Stand Ende 2023) sind Reisen nach Jerusalem sowieso nicht zu empfehlen. Für mich persönlich bedeutet das, dass ich nicht allzu traurig sein muss, sollte es mir in meiner Lebenszeit nicht mehr gelingen, diesen Kreuzweg in Jerusalem zu BE - GEHEN. Aber das muss jede, jeder für sich entscheiden, und das ist auch gut so. Denn der Frömmigkeit tut der heutige, vermutlich „falsche Verlauf“ des Kreuzweges keinen Abbruch.

Jürgen Reichle

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