
Vor 500 Jahren, 1524, entstanden die ersten Evangelischen Gesangbücher. "Ja, hat man denn vorher nicht gesungen in der Kirche?" "Nein" - Im Gottesdienst war zu dieser Zeit die überwiegend lateinisch gesungene Liturgie den Priestern, Kantoren bzw. der Schola vorbehalten. Eine Beteiligung der Gottesdienstgemeinde war nicht vorgesehen, allerhöchstens bei den sogenannten "Leisen".

Das waren einstrophige deutsche Liedrufe, mit denen sich die Gemeinden vor allem an hohen Festtagen oder bei Prozessionen ein klein wenig an der Liturgie beteiligen durfte. (zum Beispiel: Christ ist erstanden... Kyrie eleison.)

Landessprachliche Lieder waren die große Errungenschaft der Reformation. Wir haben es also Martin Luther zu verdanken, dass wir heute in unseren Gottesdiensten so aktiv dabei sein können. Es war ihm ein großes Anliegen, das Evangelium unter die Leute zu bringen, und zwar in Landessprache. Nach seiner Bibelübersetzung ins Deutsche war es ihm wichtig, allen Menschen die Texte nahe zu bringen. Das gemeine Volk war damals überwiegend des Lebens nicht kundig. Evangelium in Liedern, vielleicht sogar noch in einer dem Volk bekannten Melodie, waren da sehr einprägsam. Eines der ersten Lieder von Martin Luther war die Vertonung des 130. Psalms: "Aus tiefer Not schrei ich zu dir". Dieses Lied steht bis heute in unserem Evangelischen Gesangbuch.

Es ist auch eines von vier Liedern aus dem ersten Gesangbuch, dem sogenannten "Achtliederbuch", das 1524 in Nürnberg veröffentlicht wurde, das in unserem heutigen Gesangbuch die Jahrhunderte überdauert hat. Als richtiges Buch kann man es nicht bezeichnen, das "Achtliederbuch", eher als eine gebundene Blattsammlung, die die Liederflugblätter des Anfangs in Form brachte. Der Erfinder des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts sei Dank. Im gleichen Jahr entstanden weitere Gesangbücher (das "Erfurter Enchiridion" und das "Geistliche[s] Gesangbüchlein" von Johann Walter). Bis zu einer allgemeinen Schulpflicht war es noch ein bisschen hin, aber auch die wurde durch Martin Luther und die Reformation angestoßen. Schon Mitte des 16.Jahrhunderts für Jungen, Mitte des 17. Jahrhunderts dann auch für Mädchen wurde die Schulpflicht nacheinander in den evangelischen deutschen Ländern und Reichsstädten eingeführt. Religion war dabei eines der Hauptfächer; Lesen, Schreiben und Rechnen natürlich auch. So verbreitete sich das Singen im Gottesdienst sehr schnell in der Bevölkerung. Im 16. Jahrhundert entstand eine ganze Flut von Liedern, die wir heute noch kennen. "Der Herr ist mein getreuer Hirt", "Wie schön leuchtet der Morgenstern" und Hunderte weitere. Schauen Sie doch mal in Ihr Gesangbuch. In den einzelnen Rubriken sind die Lieder chronologisch abgedruckt.

Gesangbücher waren auf ein bestimmtes Territorium, eine bestimmte Stadt oder eine bestimmte Gemeinde abgestellt. Wie aber verhielt es sich, wenn man mit dem eigenen Gesangbuch in einer fremden Gemeinde außerhalb des Geltungsbereiches des eigenen Gesangbuchs zum Gottesdienst oder in die Schule ging. Beschwerden übe die Vielfalt der Gesangbücher wurden immer wieder laut. 1706 bemerkte man, ebenso wie schon 1657, in der Herrschaft Lobenstein eine Vielzahl verschiedener Gesangbücher.
Erst nach dem Krieg wurde ein neues Gesangbuchkapitel aufgeschlagen: Die Evangelische Kirche in Deutschland schaffte 1950 erstmals ein Einheitsgesangbuch mit unterschiedlichen Regionalanhängen.
Die neuen Musikbewegungen der 60er Jahre, das katholische Gotteslob von 1975 (ebenfalls ein Einheitsgesangbuch), ökumenische Weiterarbeit und viele theologische Gespräche führten zu dem jetzt vertrauten Evangelischem Gesangbuch, das zwischen 1993 - 1996 in allen Evangelischen Landeskirchen in Deutschland und zum Teil in den deutschsprachigen Gemeinden im europäischen Ausland eingeführt wurde.

Wer heute eine der Kirchen in Deutschland betritt, bekommt sie bereits am Eingang angeboten: die roten (oder blauen) Kirchengesangbücher, dazu das lilafarbene neue Bändchen "EG+" für Kurhessen-Waldeck.

Ältere Kirchenbesucher werden sich daran erinnern, wie sie als Konfirmanden als Geschenk ihre kostbaren Exemplare mit goldener Namensprägung erhielten - für manche ein Lebensbegleiter, für andere nur noch ein Stück stumme Erinnerung im Bücherregal.
In dem heutigen Gesangbuch findet man Lieder, die nach dem Kirchenjahr eingeteilt sind. Die Lieder von 1 bis 535 stellen den gemeinsamen Bestand an Lieder in allen beteiligten Kirchen dar. Die Nummern 536 bis 652 bilden den Regionalteil für die evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau und für die ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck.
Mehrere 1000 neue Lieder in den letzten 30 Jahren, viele davon in den Kirchentagsliederheften erschienen, dazu die vielen neuen technischen Selbstverständlichkeiten führten nicht nur 2013 zur Einführung eines neuen Gotteslobs auf katholischer Seite, sondern regten auch die evangelische Diskussion an. Die meisten Gesangbuchprozesse im letzten Jahrhundert haben 10 und mehr Jahre gedauert. Insofern wird auch das jetzige EG noch eine Weile die Gemeinden begleiten. Und sicher ist: es gibt auch nach fast 30 Jahren noch Neues zu entdecken. Traditionelle Lieder werden in einem neuen Gesangbuch weiterhin breiten Raum einnehmen. Die bildreiche und einfühlsame Sprache beispielsweise eines Paul Gerhardt, August Hermann Francke oder Gerhard Tersteegen dürfen nicht fehlen. Alle Liedepochen sollen dort vertreten sein - in ökumenischer Weite ebenso wie beim Blick auf regionale Besonderheiten. Die größte Neuerung des neuen Gesangbuchs ist eine digitale Datenbank mit bis zu 2500 offiziellen Liedern. Wahrscheinlich wird sie in Form einer App angeboten. Ein Fünftel davon soll wie bisher in einem gedruckten Buch zugänglich sein. Die genaue Verknüpfung zwischen beiden Vermittlungsformen ist da noch in einer Diskussion. Und wann soll das alles fertig sein? 2030, so lautet die derzeitige Prognose.
Ich freue mich schon auf den nächsten Gottesdienst, bei dem wir gemeinsam singen dürfen und werde das jetzige Gesangbuch mal etwas genauer betrachten.
(Gabi Bürger)
Textauszüge aus: Singt dem Herrn ein neues Lied (von Johannes Schilling)
https://www.kirchenmusik-wuert...
https://mit-herz-und-mund.de/
https://www.ekhn.de/themen/mus...
https://www.ekd.de/die-geschic...