
Zhytomyr/Ukraine, den 21. Februar 2024
Aus dem Herrnhuter Lehrtext des heutigen Tages: Jesus sprach: Was denkt ihr in euren Herzen? (Lukas 5,22)
Liebe Gäste aus der Ukraine und aus anderen Ländern,
liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Friedensgebeten
liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus,
Was denkt ihr? Fragt Jesus und mutet uns zu, mit unseren geheimen Gedanken offen umzugehen. Jedenfalls vor ihm.
Im Augenblick erlebe ich in der Ukraine mit meinem geschätzten Kollegen Pastor Viktor Tselinko aus der evangelisch-lutherischen Kirche (der mich zu sich eingeladen hatte und dessen Einladung ich gefolgt bin) dies: Wir legen unsere Gedanken in einem brüderlichen Austausch offen, angesichts dessen, was wir im Land erleben und – wie sollte es anders sein – unterschiedlich aufnehmen. Wir können unsere Gedanken nebeneinander offenlegen, weil wir wissen, dass wir Kinder desselben Herrn sind.
So weit scheint das eine kleine ökumenische Begegnung zu sein, wie wir sie in der Kirche oft schon erleben durften. Wunderbar ist das, immer wieder!
Aber etwas ist anders, als ich es in meinen 55 Lebensjahren bisher erlebt habe: In der Ukraine herrscht Krieg. Für das, was hier passiert, gibt es kein anderes Wort. Und wenn man sich im Land derzeit aufhält, wenn du von Sirenen geweckt wirst und auf der Alarm-App siehst, welche aufsteigenden Flugzeuge den Alarm ausgelöst haben, dann ist auch vollkommen klar, von wo der Krieg kommt und von wem allein in dieser Lage zu fordern wäre, endlich einmal „Schwerter zu Pflugscharen“ zu machen! Die Ukraine braucht, horribile dictu, das glatte Gegenteil: „Pflugscharen zu Schwertern“ – steht auch in der Bibel.
Vor Antritt meiner Reise, die ich auch im Namen unseres Evangelischen Kirchenkreises Oderland-Spree antreten durfte, waren mir die Bedingungen allesamt bekannt. Ich habe mich darüber informiert, was auf mich zukommt. Ich habe mich von vornherein keinen Illusionen hingegeben. Heute weiß ich: Information allein weckt keine Angst. Ukrainische Freunde von mir, die an meiner Reise Anteil nehmen, waren anfangs irritiert, wie scheinbar furchtlos ich in die dieselbe Ukraine zu fahren gedachte, aus der sie geflohen sind (wenn auch einige von ihnen, ebenfalls scheinbar furchtlos, zurückgekehrt sind und damit bei uns den – wiederum nur scheinbaren! - Eindruck erwecken, es sei alles nicht so schlimm).
Aber wenn du im Land bist, wird es ganz schnell anders: Ja, es geht alles seinen gewohnten Gang. Der Austausch mit dem Pastor der „Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine“ (warum die so heißt, gerne bei anderer Gelegenheit) vollzieht sich weiten Teils so wie mit anderen geschätzten Kolleginnen und Kollegen auch. Der Alltag wird kaum anders als bei uns bewältigt. Die Regale in den Geschäften sind voll; Kultur wird gepflegt; die lutherische Kirche leistet sich seit bald drei Jahrzehnten eine „Wiedergeburt“ für zahlenmäßig ganz, ganz wenige Leute, die es mit Entfernungen von teilweise hundert Kilometern zu versorgen gilt.
Aber: Es regiert die Angst. Und sie erfasst dich bald hinter der Grenze, wenn du auf reparaturbedürftigen Straßen unterwegs bist und ein Militärposten dich vor Ortseingang kontrollieren kann. Neben aufgeschichteten Sandsäcken. Wenn du siehst, dass ein Raketenangriff in Zhytomyr – fast schon zwei Jahre her – eine Schule und nicht die benachbarte Militär-Kommandantur getroffen hat. Und das wohl nicht, weil es den russischen Systemen an Präzision mangelte – nein, dafür hat das Vorgehen zu viel Methode (wovon man sich an anderen Orten sowie in der Presse bis heute überzeugen kann).
Pastor Viktor und ich haben schon viel über Lage, Land und Leute gesprochen. Der lutherischen Kirche ging es vielleicht ein wenig wie der Ukraine selbst: Es hat Ukrainer genauso wie lutherische Christen über einen langen Zeitraum gegeben. Aber sie entbehren einer Kontinuität ihrer Kirche beziehungsweise ihres Staates, sie entbehren einer Beständigkeit, die uns in Deutschland vollkommen selbstverständlich ist, und uns stärker macht, als wir es vielleicht glauben.
Das ist von Bedeutung, weil es in der Ukraine eine kriegsbedingte Haltung noch verstärkt: nur noch für den Tag zu denken und zu planen. Das ist vielleicht sogar viel eher die Haltung des Glaubens, den Jesus in uns wecken will, und der eine lange biblische Tradition hat, wenn wir an das tägliche, nicht haltbare Manna für Israel in der Wüste denken oder an Jesu Aufruf in der Bergpredigt, sich nicht zu sorgen. Doch in der Ukraine sieht das dann so aus: Das Hotel in Charkiv, in dem der Pfarrkonvent noch vor einigen Wochen zusammenkam, gibt es nicht mehr. Schutt und Asche. In Deutschland hätten wir gleich für das nächste Jahr gebucht – und machen uns viele Gedanken über „Nachhaltigkeit“ – ein Wort, das du vergessen musst, solltest du hier jetzt leben wollen (auch wenn die Mehrzahl der Kraftfahrzeuge hierzulande nur so von Nachhaltigkeit strotzt…). Du weißt ja auch nicht, ob du den nächsten Gottesdienst überlebst.
Mag sein, dass die Wahrscheinlichkeit, durch einen Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, immer noch höher ist, als das Unglück, zu den zivilen Toten zu gehören, die durch die eine oder andere nicht abgefangene russische Rakete im nächsten Monat ums Leben kommen werden. Was denkt ihr in eurem Herzen? Ich bin noch ganz im deutschen Modus, merke, dass ich damit nicht weit käme, werde auch ganz schnell dankbar für die Möglichkeiten in unserem Land! In Deutschland! (Vielleicht sollte man etwas härter mit denen ins Gericht gehen, die uns unser Land mies machen wollen, um daraus politisches Kapital zu schlagen – aber das ist eine andere Geschichte. Oder vielleicht doch nicht?)
Kontinuität oder Diskontinuität? Beständigkeit oder alles nur auf Zeit? Geht es bei diesen Fragen wieder mal nur um verfasste Kirchen oder Staaten? Um die viel gescholtene „Besitzstandswahrung“? Könnten wir das nicht mal großzügig übergehen? Mit ein wenig Kriegs-Folklore?
Nein, können wir nicht. Die lutherische Kirche als verfasste Institution – so lernte ich dieser Tage von Viktor – gab es seit den stalinistischen Säuberungen Ende der 30er-Jahre in der Sowjetunion nicht mehr. 1996 konnte sie sich hier in der Ukraine wieder bilden, lange verbandelt mit der lutherischen Kirche in der Russischen Föderation (wer sie kennt: die ELKRAS). 1996 heißt: Diese Kirche verdankt ihre Möglichkeiten zwischen Odessa und Charkiv und zwischen Zhytomyr und Zaporizhja auch der Existenz einer freien Ukraine. Pastor Viktor erwartet, aus den Erfahrungen der Geschichte heraus: Hört die Ukraine auf zu existieren, geht es der Kirche auch wieder an den Kragen. Einschließlich seiner selbst….Ihr Lieben, es steht in ganz vielfacher Weise viel auf dem Spiel! Wegducken ist nicht.
Daher: Betet für den Frieden! Tut etwas für den Frieden! Auch hässliche Dinge! Setzt euch offen auseinander, gerade auch mit denen im Land, die über diesen Konflikt ganz anders denken (noch einmal: Was denkt ihr in euren Herzen?...) Und nehmt die eigene moralische Integrität nicht gar so wichtig, denn die wird uns nicht retten: weder vor Gott, noch in dieser Welt vor den Menschen. Die christlich-evangelische Lehre besagt doch (modern gesprochen), dass für unsere Integrität der gekreuzigte Christus sorgt, nicht wir selbst. Der Schmutz dieser Welt wird eines Tages gnädig abgewaschen, aber wir selbst werden ihn nicht los, so viele Sonntagsreden wir auch dagegen halten sollten.
So weit meine sehr subjektiven Gedanken und mein Gruß zu einem traurigen Jahrestag, aus Zhytomyr in der Ukraine: 1801 zum Zentrum eines wolhynischen Kirchspiels für deutsche Kolonisten ernannt – aber das ist lange her und wurde von der Geschichte nun einmal mehrfach revidiert. Heute gibt es hier Schwestern und Brüder, die sich – versorgt im Rahmen einer schlanken Institution – um Gottes Wort versammeln: Das muss vielleicht wirklich genügen. Jedenfalls für heute.
Pfarrer Wolfgang Krautmacher, Lieberose und Land