Foto: Frank Knüfken (Präventionsbeauftragter KK RE), Marie Wilmes (Ausstellungsteam WAS ICH ANHATTE...), Birte Hoffmann (Multiplikatorin), Steffen Riesenberg (Superintendent KK GLaBoDo), Stefanie Cillesen (Multiplikatorin), Gitta Werring (Präventionsbeauftragte), Julia Borries (Ev. Erwachsenenbildung)
Eine kraftvolle, eindrucksvolle und berührende Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung „Was ich anhatte…“ konnten die Besucher*innen am Dienstagabend im Haus des Kirchenkreises erleben. 36 Menschen waren gekommen, um sich ein eigenes Bild zu machen von den 12 Exponaten, die noch bis nächsten Freitag, 6.Oktober, in Recklinghausen zu sehen sind. Es handelt sich um Kleidungsstücke, die eindrucksvoll von der Decke des Raumes hängen. Kleidungsstücke, die 11 Frauen und ein Junge trugen, als sie sexualisierte Gewalt erlebt haben. Mal war es eine Einzeltat, mal mussten die Opfer die Gewalt über mehrere Jahre oder mehrmals erleiden. Wenn sie sich trauten, ihre Geschichte zu erzählen, mussten sie oftmals demütigende Prozesse und Verhöre auf sich nehmen. Marie Wilmes vom Team der Ausstellung erzählt: „„In den sozialen Medien haben wir einen Aufruf gestartet. Gerichtet an Frauen, die einen sexuellen Übergriff erlebt haben mit der Bitte ihre Kleidung zu schicken, die sie bei dem Übergriff anhatten, sowie die dazu gehörige Kleidung. Wir waren überrascht, wie viele Texte mit und ohne Kleidung uns daraufhin zugesandt wurden: fast 40 Einsendungen“.
„Das tückische an sexualisierter Gewalt ist, dass das Schamgefühl so ein guter Komplize ist. Sie führt die Betroffenen in die Einsamkeit. Erst in die innere Wüste, und dann oft auch in eine äußere Wüste. Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, tragen Narben fürs Leben“, so Superintendent Steffen Riesenberg in seinem Grußwort für die beiden Kirchenkreise Recklinghausen und Gladbeck-Bottrop-Dorsten, die die Ausstellung gemeinsam mit den Präventionsfachstellen der beiden Kirchenkreise und der Frauenberatung Herten (Diakonie Kreis Recklinghausen) präsentieren.
Julia Rosenkranz, stellvertretende Leiterin der Beratungsstelle für Frauen in Herten (Diakonie im Kreis Recklinghausen) erinnerte in ihrem Grußwort an die erkämpften Errungenschaften der Frauenrechte in Deutschland. So beschloss der Bundestag erst am 15.05.1997 nach langem Ringen, dass eine Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen zu werten ist (eine Vergewaltigung wurde bis dato nur im außerehelichem Bereich strafrechtlich verfolgt). Rosenkranz warnte eindringlich, dass es wieder politische Stimmen in Deutschland gäbe, die Aussagen wie diese machten: „Rücknahme des Vergewaltigungsparagraphen 177. Mit Gott für Kontrolle (keine Verhütungsmittel). Frauen sind Gebärmaschinen. Verteuflung von Kitas. Traditionelles Familiengefüge wiederaufbauen. Frauen zurück an den Herd“.
„Wir arbeiten in der Frauenberatungsstelle sexualisierter Gewalt und in den Frauenhäusern regelmäßig mit Frauen, die Vergewaltigungen erlebt haben. Ich fordere auf dieser Grundlage Schluss mit dem Versuch unsere Frauenrechte zurückzunehmen. Wir fordern: Schutz und Hilfe für jede Frau, die eine Vergewaltigung erlebt hat. Eine intensive Gewalt – und Täterverfolgung- Eine direkte Verurteilung der Täter. Verbot von frauenfeindlichen Äußerungen.“
Denn die Folgen für die Opfer sind immens. „Die meisten Betroffenen entwickeln nach der Tat mentale Störungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Ängste und Depressionen. Nicht wenige haben sogar Gedanken an Suizid“, so Marie Wilmes.
Und was kann Kirche tun? „Die Wahrheit sagen, Menschen ganz praktisch helfen und sichere Strukturen aufbauen: Das ist christliches Handeln!“, so Superintendent Steffen Riesenberg. Das geschehe durch die Umsetzung des Kirchengesetzes zum Schutz vor sexualisierter Gewalt und die Etablierung einer Kultur der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit – durch Schulungen, mit guten Schutzkonzepten, um Kirchengemeinden zu einem „safe space“ zu machen.
Und weitere gute strukturelle Entwicklungen: Anna Weber (Frauenberatung Recklinghausen) stellte ihre Arbeit bei der Koordinierungsstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention im Kreis Recklinghausen vor. Ihr Einsatz für den Gewaltschutz für Frauen und Mädchen ist es, Lücken und Bedarfe im Hilfesystem aufzuzeigen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit der dort tätigen Fachkräfte zu fördern und durch Öffentlichkeitsarbeit zur Information und Sensibilisierung des Themas „Gewalt gegen Frauen“ beizutragen.
Denn es ist noch viel zu tun. Julia Rosenkranz berichtet: „Laut der Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen“ haben nur wenige Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, die Polizei eingeschaltet. Die Gründe dafür sind unterschiedlich und haben in der Regel mit Angst, Scham, Hilflosigkeit und Verdrängung zu tun. Jährlich werden ca. 8.000 Vergewaltigungen in Deutschland angezeigt. Von 100 angezeigten Vergewaltigungen enden im Schnitt nur 13 mit einer Verurteilung. Damit liegt die Verurteilungsquote bei 13%. Diese Verurteilungsquote ist im europäischen Ländervergleich unterdurchschnittlich.“
Zurück zur Ausstellung. Marie Wilmes sagt deutlich: „Diese Ausstellung ist keine Opferausstellung. Die Protagonist*innen erzählen in ihren Texten, was ihnen geholfen hat, ihr Trauma zu bewältigen. Die Ausstellung zieht die Tat in die Öffentlichkeit und hilft so den Frauen, stark zu werden. Sie erfahren, dass sie nicht die einzigen sind, denen so etwas passiert.“
Persönliches Fazit der Veranstalterin: Bemerkenswert: 33 Frauen waren vor Ort. 3 Männer, davon 2 qua Amt. Was will uns das sagen? Marie Wilmes sagte es in ihrem Grußwort deutlich: Sexualisierte Gewalt ist kein Frauenthema, sondern ein gesellschaftliches Problem! Ebenfalls bemerkenswert das Gespräch mit einem männlichen Besucher, der von seiner Scham bei dem Thema berichtet und sich scheut, mit seiner 14zehnjährigen Tochter darüber zu reden.
Denn so ist es. Wir müssen von Tätern statt von Täterinnen reden - sexuelle Gewalt wird durch Männer verübt. „Untersuchungen belegen, dass sexuelle Gewalt bis zu 99% von Männern verübt wird, der Anteil von Frauen als Täterinnen beträgt unter 1%. Ein ähnliches Verhältnis ergibt sich bei sexueller Belästigung. In 97% der Fälle gehen die Belästigungen von männlichen Personen und in nur 2% der Fälle von weiblichen Personen aus.“ So Julia Rosenkranz in ihrem Grußwort.
Ja, es tut weh. Es ist schmerzhaft. Und es zeigt: Wir brauchen solche Orte und solche Ausstellungen, um zu reden. Dafür kann auch Kirche einen wichtigen Ort bieten. Es reicht nicht, dass nur Frauen bei dem Thema Sexualisierte Gewalt aufzeigen, mahnen und kämpfen. Also, liebe Männer, traut euch und übernehmt Verantwortung bei dem Thema! Lasst uns reden! (JB)
Fotos: Pfarrer Eugen Soika