

Das Jahr der Christlich-Jüdischen Zusammenarbeit 2024 wurde durch eine Festveranstaltung im Potsdam Museum am 11. März 2024 feierlich eröffnet. Die bemerkenswerte Festrede hielt Prof. Dr. Jascha Nemtsov, Professor für Musikwissenschaft, Lehrstuhl für die Geschichte der jüdischen Musik, an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar. Prof. Nemtsov hat uns seine Rede dankenswerterweise zur Verfügung gestellt:
Festrede am 11. März 2024 in Potsdam
Jascha Nemtsov
In diesem Jahr steht die christlich-jüdische Zusammenarbeit unter einem schönen Motto: „The Sound of Dialogue – Gemeinsam Zukunft bauen“. Ich bin Musiker und ich freue mich, wenn der Klang im Mittelpunkt steht, auch wenn ich nicht verstanden habe, warum der Dialog auf Englisch klingt, während die gemeinsame Zukunft auf Deutsch gebaut wird.
Englisch hat natürlich insofern eine Berechtigung, als die Tradition der „Woche der Brüderlichkeit“, die ab diesem Jahr nicht mehr so heißt, in Westdeutschland nach dem Krieg von den Amerikanern eingeführt wurde. Vorbild war die amerikanische National Brotherhood Week, die allerdings nicht annährend solche Resonanz hatte, wie später ihr deutsches Pendant, und die irgendwann in den 1980er Jahren eingestellt wurde. Als ich vor ein paar Tagen mit einem jüdischen Freund aus Boston – sein Name ist Geoff Kronik, er hat mir ausdrücklich erlaubt, ihn zu erwähnen – als ich mit ihm darüber sprach, sagte er dazu: “Typically American! We force others to do something we don't take seriously ourselves.” („Typisch amerikanisch! Wir zwingenandere etwas zu tun, was wir selbst nicht ernst nehmen.“)
Das einzige, was von dieser amerikanischen Woche der Brüderlichkeit heute noch erhalten blieb, ist ein Lied. Man sieht einmal mehr – nichts ist so nachhaltig wie Musik. Mein amerikanischer Freund hat bei unserem Gespräch auch sofort angefangen, dieses Lied zu singen. Es stammt von Tom Lehrer, einem jüdischen Liedermacher, eine Art amerikanischer Georg Kreisler, der inzwischen 96 Jahre alt ist. Seinen berühmten Song National Brotherhood Week hat er vor genau 60 Jahren geschrieben. Ich zitiere die letzten Zeilen davon in deutscher Übersetzung:
„die Protestanten hassen die Katholiken, und die Katholiken hassen die Protestanten, Und die Hindus hassen die Moslems, Und alle hassen die Juden. Aber während der nationalen Woche der Brüderlichkeit Seid nett zu Menschen, die euch unterlegen sind. Es ist nur für eine Woche, also habt keine Angst. Seid dankbar, dass es nicht das ganze Jahr andauert.“
Sie merken, der jüdische Humor ist etwas speziell. Er verletzt aber niemanden – außer Menschen, die humorlos sind. Vielleicht gibt es irgendwann in den nächsten Jahren ein humorvolles Motto für die Woche der Brüderlichkeit, die nicht mehr so heißt. Zum Beispiel: „Mit jüdischem Humor die Gegenwart bewältigen“ – es sollte dann natürlich auf Englisch sein.
Nun zurück zum diesjährigen Motto, dem Klang des Dialogs. Vor einigen Jahren habe ich einen Sammelband unter dem Titel „Jüdische Musik als Dialog der Kulturen“ herausgebracht. In der Einleitung schrieb ich: „Das Bemühen um ein friedvolles Miteinander der Religionen und Kulturen, um Verständigung und gegenseitigen Respekt ist heute stärker denn je gefordert. Der Dialog ist elementar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in jeder Demokratie. Der Wiederaufbau und die Festigung der jüdischen Kultur im heutigen Deutschland kann neue wichtige Impulse zu diesem Dialog geben. Speziell die jüdischeMusikkultur, deren Fundament sakrale Musik der Synagoge ist, kann zum Erhalt verbindender geistiger Werte unserer Gesellschaft beitragen.“
Eine der denkwürdigsten Aufführungen in diesem Kontext fand vor fast genau 30 Jahren statt, am 7. April 1994. Es war der jüdische Holocaust-Gedenktag Yom HaShoa und an diesem Tag wurde im Vatikan zum ersten Mal offiziell der sechs Millionen im Holocaust ermordeter Juden gedacht. Die Gedenkveranstaltung fand in Form eines Konzerts statt. Das Programm schloss neben der Musik von Leonard Bernstein und Ludwig van Beethoven zwei Kompositionen ein, die die christlich- jüdischen Beziehungen auf dem musikalischen Gebiet bestens veranschaulichten: Das waren zum einen Kol nidrei von Max Bruch für Violoncello und Orchester (1880), ein Stück, das auf Grundlage einer der wichtigsten jüdischen liturgischen Melodien komponiert wurde.
Das andere Stück war Franz Schuberts Vertonung des Psalm 92 in hebräischer Sprache, die 1828, im letzten Lebensjahr des Komponisten im Auftrag des Wiener Synagogenkantors Salomon Sulzer geschrieben wurde. Als junger Musiker war Sulzer damals mit Franz Schubert befreundet. Schubert schätzte Sulzers Qualitäten als Sänger, er bezeichnete ihn sogar als einen der besten Interpreten seiner Lieder. Schuberts hebräischer Psalm und seine Zusammenarbeit mit dem jüdischen Kantor Salomon Sulzer gelten geradezu als Verkörperung eines idealen – auch idealisierten – Bilds von produktiven und gleichberechtigten christlich-jüdischen Beziehungen im 19. Jahrhundert.
Als der deutsche Dirigent und Nazigegner Fritz Busch in seinem New Yorker Exil an einem jüdischen Chorfestival teilnahm, knüpfte er sein Engagement an die von Franz Schubert begründete Tradition an: „Ich trete in die Fußstapfen eines sehr großen und sehr liebenswerten deutschen Musikers, Franz Schubert. Vor hundert Jahren, in einer [...] Periode der Geschichte, die voll von Streit zwischen Konfessionen und Nationen war, hat Schubert, deutsch und christlich wie er nur sein konnte, ein Chorwerk zu hebräischen Worten für den synagogalen Gottesdienst seines Freundes, des berühmten Kantors Salomon Sulzer aus Wien, komponiert. Es ist in Sulzers Sammlung veröffentlicht und wird vom jüdischen Volk in der ganzen Welt als sein eigenes verwendet. Das ist es, was Schubert getan hat. Ich bin glücklich, seinem Beispiel zu folgen.”
Es sind schöne, harmonische Worte – auch Schuberts Psalm-Vertonung ist schön und harmonisch, man hört diesem Klang des Dialogs gern zu. Ich könnte meine Rede damit beenden und alle wären zufrieden und glücklich. Nun ist aber unsere Zeit alles andere als harmonisch, sie ist voll mit Dissonanzen, die zum Teil extrem schmerzlich sind.
Es sind gerade 5 Monate seit dem Alptraum des 7. Oktober vergangen, dem Tag, der in die jüdische Geschichte als eine neuerliche tragische Zäsur eingehen wird. Seitdem ist vieles geschehen, was dem Klang des Dialogs entgegengesetzt ist. Ich meine nicht nur die vielen antisemitischen Demos weltweit, bei denen der hasserfüllte Mob vorbeizog, sondern auch und vor allem den Antisemitismus im Bereich der Bildung und Kultur. Universitäten, die für jüdische Studenten zu no-go- areas geworden sind. Oder die letzte Berlinale, als israelfeindliche Äußerungen einen tosenden Applaus des Publikums bekamen. Ich denke auch an die vielen Musiker und andere Künstler, die ihrem Israel-Hass in sozialen Netzwerken und bei öffentlichen Aktivitäten in den letzten Monaten freien Lauf ließen. Und auch an den löblichen, aber erfolglosen Versuch des Berliner Kultursenators, die künftige Vergabe von Fördermitteln an ein Bekenntnis gegen den Antisemitismus zu koppeln. Bekanntlich gab es danach u.a. einen Protestbrief von fast 6000 Kulturschaffenden und Kunstmachenden; die Antisemitismusklausel wurde gekippt, noch bevor ihr Recht auf Judenhass und somit ihre künstlerische Freiheit eingeschränkt werden konnten.
Ja, auch musikalische Themen gäbe es in diesem Kontext genügend wie etwa die Absage des Oratoriums „Israel in Ägypten“ von Georg Friedrich Händel, ein Werk aus dem 18. Jh., das in einem Neujahrskonzert des RIAS-Kammerchors Berlin erklingen sollte. In der Presseerklärung dieses renommierten Ensembles, das von der Bundesrepublik Deutschland, dem Land Berlin, dem Deutschlandradio und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg getragen wird, hieß es dazu:
„Im Oratorium Israel in Egypt gibt es eine einseitige und alles erobernde Macht, die vor allem durch den Chor repräsentiert wird. Diese Darstellung, auch wenn sie dem Alten Testament entstammt, halten wir angesichts der aktuellen Situation nicht für angemessen“.
Danach werden pflichtgemäß „Fanatismus, Antisemitismus und Hass“ verurteilt und die üblichen abgenutzten Floskeln von „Respekt, Toleranz und gegenseitiger Achtung“ beschworen. Wer wird aber hier als „einseitige und alles erobernde Macht“ vorgeführt? Es ist niemand anderer als Gott. Es ist wohl zum ersten Mal, dass Gott persönlich gecancelt wurde. Die gewohnte Täter-Opfer-Umkehr, die aus der sogenannten Israel-Kritik bestens bekannt ist, wird hier auf die legendäre Geschichte vom Exodus projiziert: Nicht die biblischen Ägypter mit ihrem Pharao sind die Täter, die das israelitische Volk lange Zeit versklavten, ausbeuteten und auszurotten versuchten, sondern Gott, der nach vielen Mahnungen und Bitten, sein Volk in Frieden ziehen zu lassen, es schließlich gewaltsam befreite.
Der Judenhass begleitet praktisch die gesamte jüdische Geschichte. Wir Juden haben gelernt, damit zu leben, sonst wären wir ja heute nicht da. Und wenn einige von uns vergessen, wie es sich anfühlt, werden sie ab und zu daran erinnert.
Trotz der ganzen erschreckenden und frustrierenden Ereignisse der jüngsten Zeit sollte man die positiven Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, speziell auf dem Gebiet des christlich-jüdischen Dialogs, nicht vergessen. Vor fast 60 Jahren, 1965 wurde von der katholischen Kirche die berühmte Erklärung Nostra aetate, die Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen verabschiedet. Zum ersten Mal wurde damals der Anspruch der katholischen Kirche auf das Wahrheitsmonopol offiziell aufgegeben und anderen Religionen, darunter auch der jüdischen, eine wahre Gottesverehrung zugebilligt. Theologisch gesehen war es das Ende der Substitutions- oder Enterbungslehre, mit der die Kirche fast zwei Tausend Jahre lang sich selbst zum „Neuen Israel“ und das Judentum zu einem Auslaufmodell erklärte.
Natürlich gibt es auch heute noch Antisemitismus in der Kirche – wie überall in der Gesellschaft. Theologisch gesehen gibt es aber im Christentum seit der Erklärung Nostra aetate keine Gründe mehr für die Ablehnung der jüdischen Existenz.
Selbstverständlich könnte man noch weiter gehen und sich nicht nur kritisch mit der eigenen Kirchengeschichte, sondern auch mit den judenfeindlichen Darstellungen im Neuen Testament auseinandersetzen. Wenn man heute zum Beispiel Bedenken wegen derartiger Darstellungen in den Passionswerken von Johann Sebastian Bach hat – in einigen Tagen beginnt ja die Zeit der Passionen –, so muss man klar sagen: Bach konnte nichts dafür, er hat nur die Texte des Neuen Testaments genial vertont. Um das Problem zu lösen, muss man diese Texte endlich so bewerten, wie sie sind, nämlich als tendenziöse, größtenteils frei erfundene judenfeindliche Geschichten, die mit tatsächlichen historischen Begebenheiten und dem zeitgeschichtlichen Kontext nur wenig zu tun haben. Ich bin sicher, dass auch diese Einsicht sich mit der Zeit durchsetzt. Man kann heute ein religiöser Mensch sein, ohne jedes Wort im Alten und Neuen Testament, im Koran und in anderen Heiligen Schriften blind glauben zu müssen.
In unserer Zeit sitzen wir in Deutschland und Europa als Religionsgemeinschaften in jedem Fall in einem Boot. Wir sind nun zusammen auf der Reise. Es ist eine schöne, erfreuliche Vorstellung, insbesondere angesichts der langen, größtenteils unerfreulichen Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen.
Allerdings fährt dieses Boot durch unruhige, zum Teil auch stürmische Fahrwasser. Die Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, sind sehr ähnlich. Etwa der Mitgliederschwund. Die Zahl der Kirchenaustritte, schon lange besorgniserregend, ist zuletzt rapide gestiegen, 900.000 wurden es in Deutschland in nur einem Jahr. Aber auch die Zahl der jüdischen Gemeinden und ihrer Mitglieder ist hierzulande seit 2005 stark rückläufig. Zur Zeit existieren in Deutschland 105 jüdische Gemeinden, also dreizehn weniger als noch vor einigen Jahren. Sie zählen insgesamt etwa 90.000 Mitglieder oder 18.000 weniger als 2005. Das ist in der Öffentlichkeit etwas weniger bekannt, vielleicht weil die sinkenden Mitgliederzahlen in einer gewissen Diskrepanz mit der steigenden staatlichen Förderung stehen, – aber auch mit den schönen Phrasen vom blühenden jüdischen Leben im besten Deutschland aller Zeiten...
Es gibt aber noch andere, existentielle Probleme, die unsere gemeinsame Reise so unsicher machen und das Boot – um bei dem Bild zu bleiben – eines Tages möglicherweise zum Kentern bringen könnten. „Die Kirche macht sich überflüssig“, so wurde vor einigen Tagen ein diskussionswürdiger Beitrag des Historikers MichaelWolffsohn in der Neuen Zürcher Zeitung betitelt. „Die größte Dummheit der Kirche ist, zu politisieren, statt sich mit dem Thema Gott-Mensch zu befassen“, heißt es dort gleich zu Beginn. Das gelte besonders für die deutschen Protestanten: „Mehr als andere betätigt sich die EKD als NGO, als austauschbarer Verband in der Verbandsdemokratie,“ schreibt Wolffsohn. Die Kirche verzichte „als eine von vielen NGO“ auf ihr „Alleinstellungsmerkmal Gottesbotschaft“ und mache sich so „selbst überflüssig“.
Diese Entwicklungen, das macht Wolffsohn mehrfach deutlich, gelten nicht nur für die Kirchen, sondern gleichermaßen auch für das Diaspora-Judentum. Menschen, die spirituelle Bedürfnisse haben und sich Sinnesfragen stellen, gehen nicht an einen Ort, der zwar Kirche oder Synagoge heißt, der aber alles Mögliche anbietet, nur keine Spiritualität, schon gar nicht an individuelle Bedürfnisse angepasste Spiritualität. Bestenfalls findet man dort trockene, für viele nur noch wenig verständliche Rituale, dazu wenig glaubwürdiges Personal und vor allem ganz viel Zeitgeist.
Trotz aller Krisen der vergangenen Zeiten, so Wolffsohn, bestand noch nie eine Auflösungsgefahr der Institution Kirche. In der jetzigen Krise schon. Wird aber nicht auch der Zentralrat der Juden, wenn es so weitergeht, irgendwann nur noch eine Handvoll älterer Menschen repräsentieren?
Friedrich Nietzsche sah bekanntlich im Christentum seiner Zeit, des ausgehenden 19. Jahrhunderts, bereits eine sinnentleerte, entkernte Religion. Sein häufig missverstandenes Apodiktum „Gott ist tot“ meint nämlich den institutionalisierten Gott, den Gott der Kirche.
In der gegenwärtigen Sinneskrise steht aber nicht mehr nur Gottes Existenz und die Rolle der Kirche und der Synagoge zur Disposition. Auch die künftige Existenz von Mensch selbst erscheint nicht mehr als sicher.
In letzter Zeit verbreiten sich rationalistische Ideen, die eine radikale Umgestaltung der biologischen Natur des Menschen anstreben. Solche Ideen sind eine Weiterentwicklung der heute allgemein geächteten Eugenik unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters. Derartige Konzepte werden mit Begriffen wie Transhumanismus oder auch Posthumanismus bezeichnet. Worum geht es dabei? Der Transhumanismus sieht keinen qualitativen Unterschied zwischen Tier, Mensch und Computer, sondern nur einen quantitativen – deren Rechenleistung ist nämlich unterschiedlich. Die sei bei Mensch größer als bei Tier, bei Computer größer als bei Mensch. Demnach habe der Homo Sapiens als biologische Spezies in seiner jetzigen Gestalt keine Zukunft, er sei unvollkommen und könne mit der Maschine, mit der Künstlichen Intelligenz auf Dauer nicht mithalten. Er müsse daher durch sie ergänzt und zu einem Mischwesen, eine Art Cyborg umgestaltet werden.
Nach der jüdisch-christlichen Vorstellung ist der Mensch kein perfektes Wesen. Vielmehr wurde er mit einem freien Willen gesegnet und muss ständig um das Gute und um den richtigen Weg ringen, ohne je Vollkommenheit erreichen zu können. Für einen solchen unvollkommenen, leidenden, suchenden und Fehler machenden Menschen gibt es in der „schönen neuen Welt“ der Transhumanisten keinen Platz mehr.
Auch die menschliche Musik ist in dieser Zukunft nicht vorgesehen, sie soll durch die „perfekte“ Computermusik ersetzt werden. In einem Fernsehinterview schwärmte einer der wichtigsten Propagandisten dieser Ideologie, Yuval Harari, von den Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz: Diese sei angeblich imstande, „an einem Tag 5000 Choräle im Stil Johann Sebastian Bachs“ zu komponieren, die man von der Musik Bachs „nicht unterscheiden“ könne. Harari zufolge werden Künstler künftig nicht mehr gebraucht, denn die KI würde diese Aufgabe am besten erfüllen.
Die transhumanistische Ideologie, die pseudo-religiöse Züge aufweist, suggeriert unbegrenzte Möglichkeiten und verspricht eine bessere Welt, indem sie nicht nur Gott als Schöpfer, sondern auch den Menschen mit seiner natürlichen Unvollkommenheit und seinen schöpferischen Fähigkeiten abschaffen will. Diese Ansichten – das möchte ich extra betonen – widersprechen fundamental allen jüdischen, christlichen und muslimischen Wertvorstellungen.
Die Künstliche Intelligenz kann wie jede neue Technologie in verschiedenen Bereichen dem Wohle des Menschen dienen. Sobald es aber darum geht, das Menschliche im Menschen durch die KI zu ersetzen, wird es problematisch. Das Beispiel mit Musik zeigt das anschaulich. Die bislang von der KI produzierte Musik ist in der Tat nicht nur von der Kunst eines Bachs meilenweit entfernt, das ist eigentlich gar keine Musik, sondern lediglich eine sinn- und geistlose Kombination von bereits bestehenden, von Menschen zuvor erzeugten Klängen – erinnern wir uns etwa an die breit beworbene Vorführung der sogenannten „10. Symphonie von Beethoven“ 2021. Die Musik als Kunst beginnt erst da, wo etwas Neues, Abweichendes, Unvorhersehbares entsteht, was keinem Algorithmus folgt, sondern den Bewegungen einer lebendigen Seele. Musik kann daher nur menschlich sein.
Das gilt aber für alles, was lebendig ist. Nicht zufällig nannte der deutsche Kulturwissenschaftler Roberto Simanowski sein Buch „Todesalgorithmus: Das Dilemma der künstlichen Intelligenz“. Todesalgorithmus – da, wo die Zahl herrscht, endet das Leben. Es ist dann nur eine Art Pseudo-Leben – die Pseudo-Musik, die von der KI hergestellt wird, die Pseudo-Freundschaften im digitalen Raum, wo Likes, Klicks und Shares gezählt werden, die Pseudo-Bildung nach der Bologna-Reform, die nur noch in Leistungspunkten gemessen wird, die Pseudo-Politik, die ihre Entscheidungen nach den ausgeklügelten, aber sinnfreien Computer-Modellen ausrichtet, bis hin zur Pseudo-Moral des Social Credit System in China, das jede Handlung des Menschen registriert, erfasst und in eine Zahl übersetzt, um einen Ergebnis-Score zu ermitteln, ein soziales Konto, das den Wert eines Individuums und seinen Platz in der Gesellschaft bestimmt.
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass der gegenwärtigen transhumanistischen digitalen Revolution künftig eine neue, humanistische Revolution folgen wird. Die Zahl, die digitalen Technologien werden natürlich nicht verschwinden, sie werden aber gebändigt und in Schranken gewiesen. Das ist die Frage unseres Überlebens.
Ich möchte daher mit einer optimistischen Geschichte enden, die für unsere durch die Gefahr eines globalen Krieges geprägte Zeit besonders bedeutsam ist: Es gibt in der Stadt Oberhausen eine Gedenktafel, die 2019 für einen russischen Offizier, Stanislaw Petrow, aufgestellt wurde. Während des Kalten Krieges diente Petrow in der Kommandozentrale des sowjetischen satellitengesteuerten Frühwarnsystems. Am 26. September 1983 meldete das System einen atomaren Angriff der USA auf die Sowjetunion und es wurden bereits die sowjetischen Interkontinentalraketen entsichert, die zum atomaren Gegenschlag starten sollten. Es war dann die alleinige Entscheidung von Petrow, der diesen Alarm korrekt als technisch bedingten Fehlalarm interpretierte und die Vorbereitung von Raketenstart eigenverantwortlich stoppte. Dadurch verhinderte er sehr wahrscheinlich den Dritten Weltkrieg. Ein Unternehmer aus Oberhausen, ironischerweise ein Bestattungsunternehmer, namens Karl Schumacher, besuchte Petrow in der Nähe von Moskau Ende der 1990er Jahre, erst dann wurde die Geschichte in Deutschland, später auch international bekannt. Petrow bekam mehrere Auszeichnungen, auch von der UNO. Nach seinem Tod wurde in Oberhausen das erwähnte Denkmal für ihn aufgestellt. Die Inschrift darauf ist in drei Sprachen – Russisch, Englisch und Deutsch, sie lautet: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“