„Das Ei unter Druck“ titelt die ZEIT in ihrer aktuellen Ausgabe und bezieht sich auf die jüngst veröffentlichten Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zum Essverhalten der Bundesbürger. Ein gesunder Erwachsener soll nur noch ein Ei pro Woche essen, heißt es darin. Eine schlechte Nachricht so kurz vor Ostern.
„Na toll!“, werden alle geseufzt haben, die auch in diesem Jahr Eier ausgepustet und überlegt hatten, wie sie die Reste weiterverwerten. Das war‘s dann mit Omelette, Rührei, Quiche oder Pfannkuchen! „Darf man denn gar nichts mehr essen“, ereiferten sich einige Kommentatoren. Sogar von einem „Eierverbot“ war die Rede. Und der Sprecher des Bundesverbands Ei erklärte: „Das Ei hat es schwer. Seit den letzten Jahrzehnten jagt ein Problem das nächste: Legebatterien, Salmonellen, Cholesterin und nun das, dabei ist das Ei viel besser als sein Ruf!“
Im Christentum jedenfalls hat das Ei eine erstaunliche Karriere hingelegt, die im Bemalen, Verzieren und Verstecken ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat. Schon in der Antike war es üblich Verstorbenen Eier ins Grab zu legen, nicht als Proviant fürs Jenseits, sondern als Hoffnungszeichen für neues Leben hinter der Todesgrenze. Kirchenväter interpretierten das Ei dann als Symbol für die Auferstehung Jesu. So wie die Schale des Eis von Innen aufgebrochen wird, bricht neues Leben aus der Grabeshöhle hervor, da gerät sogar ein Felsen vor dem Eingang in Bewegung.
Die Frauen waren die ersten, die die geöffnete Grabeshöhle entdeckt hatten. Früh am Morgen waren sie aufgestanden, hatten sich auf den Weg gemacht an den Ort, wo all‘ ihre Hoffnungen begraben wurden. Mutig sind sie, die beiden Marias und Salome. Wer als Sympathisant eines Aufrührers identifiziert wurde, konnte leicht selbst am Kreuz enden.
Für Frauen gab es da keine Ausnahme. Doch das hielt sie nicht ab, in seiner Nähe zu sein in Golgatha, ein wenig entfernt vom Kreuz stehend. Es hält sie nicht ab, ihm noch einmal nahe zu kommen. Seinen toten Körper wollen sie salben, ein letztes Mal etwas für ihn tun. Und vielleicht wollen sie es auch für sich selbst tun, um mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Händen zu begreifen, was so schwer zu verstehen ist: Dass Jesus tot ist, der Freund und Lehrer.
Mit ihm begraben sein Reich des Friedens, in dem Kranke geheilt wurden und die Traurigen hofften, in dem die Ausgegrenzten Ansehen hatten und Verirrte eine neue Chance bekamen. Sie hatten es selbst erlebt. Und nun: Alles vorbei.
Einmal noch ihn sehen, berühren, Abschied nehmen. Wenigstens das. Doch dann fällt ihnen unterwegs ein, dass das Grab ja verschlossen ist, ein tonnenschwerer Stein davor gewälzt wurde. Sie staunen nicht schlecht, als sie die Grabeshöhle offen finden. Furcht erfüllt sie, als sie in der Höhle einen jungen Mann sitzen sehen, weißgekleidet wie ein Gespenst. Und dann die Botschaft: Jesus sei nicht hier, er sei auferstanden.
Das ist zu viel für die drei, sie ergreifen die Flucht. Zuhause sagen sie kein Wort. Schließlich ist es Maria Magdalena, die als erste die Sprache wiederfindet und den ungläubigen Jüngern verkündet: Jesus lebt.
Die Frauen waren die ersten. In den frühen Morgenstunden sind sie zum Mahnmal für die Opfer des Stalinismus in Sankt Petersburg gekommen. Zwei Studentinnen haben Nelken und Rosen dabei. Eine Babuschka mit Kopftuch zündet eine Kerze an: „Ich will ihm wenigstens so die letzte Ehre erweisen“, sagt sie.
Es ist der Morgen, nach dem 16. Februar 2024, als der Tod des russischen Regimegegners Alexej Nawalny vermeldet worden war. Als junger Oppositionspolitiker hatte Nawalny noch mit nationalistischen Tönen von sich reden gemacht, zuletzt beklagte er die schlechten Haftbedingungen muslimischer Mitgefangener. Doch vor allem war er lange der einzige nennenswerte politische Widerstand gegen das todbringende Machtsystem Putins und dazu ein gläubiger Christ. Die Seligpreisungen der Bergpredigt machen ihm die Hoffnung, dass die Gerechtigkeit am Ende siegen werde, hatte er vor Gericht gesagt.
Der Platz um den grauen Findling des Mahnmals füllt sich mehr und mehr mit Blumen, Kerzen und Fotos Nawalnys. Immer mehr Menschen wollen etwas niederlegen und gedenken. Schließlich tauchen Uniformierte auf und treiben die Menschen auseinander; einige werden brutal an Armen und Beinen gepackt und in Polizeitransporter gezogen. In der Nacht kommen Männer mit dunklen Kapuzen und stopfen die Blumen, Kerzen und Fotos in Plastiksäcke.
Doch am nächsten Morgen sind sie wieder da: Frische Tulpen und Nelken in weiß, gelb, rot. „Fürchtet euch nicht“ hat jemand mit einem blauen Edding auf ein kariertes Blatt geschrieben und es an das Mahnmal geheftet, das Mahnmal in Sankt Petersburg am Woskresenskaja-Ufer. Woskresenskaja – das heißt Auferstehung.
Die Frauen waren die ersten. Die ersten ihrer Art als sie sich 2017 in Wien gründen. „Omas“ nennen sie sich, auch wenn nicht alle Enkelkinder haben. „Omas gegen Rechts“ – das sind ältere Damen, die auf kreative Weise gegen Rechtsextremismus und Rassismus protestieren. Auch in Deutschland gibt es viele von Ihnen.
Die Berlinerin Irmela Mensah-Schramm ist sogar „Ehren-Oma“. Seit 35 Jahren schon entfernt sie Nazi-Schmierereien in der Öffentlichkeit. Ihre Werkzeuge: Cuttermesser, Pinsel und Sprühdose. Kratzt Aufkleber mit gewaltverherrlichenden Sprüchen an Bushaltestellen ab oder verwandelt Hakenkreuze in tanzende Männchen. Manchmal allerdings hilft nur übersprühen. Und aus Hassbotschaften werden Blumen-Motive.
Ihr Tun erregt Argwohn. Zahlreiche Anzeigen wegen Sachbeschädigung hat sie bereits erhalten, wurde in Polizeigewahrsam genommen und bekam im Internet Morddrohungen. Ob sie keine Angst hat? „Habe ich, aber ich lasse sie mir nicht anmerken“, sagt Irmela Mensah-Schramm.
Die Frauen waren die ersten - in Jerusalem, Sankt Petersburg, Wien und Berlin. Mit Salböl, Nelken oder Sprühdosen. Ob gläubig oder nicht, für mich sind sie alle auf ihre Weise Zeuginnen der Osterbotschaft: Dass Liebe stärker sein wird als alle Mächte des Bösen.
Denn Auferstehung ist ein Aufstand des Lebens – in der Grabeshöhle nimmt er seinen Anfang, unmerklich und verborgen zunächst, bis offenkundig ist: Jesus und seine Botschaft der Hoffnung sind nicht totzukriegen, sondern leben weiter, kriegen immer wieder neu Gestalt im Glauben, im Mut und im Mitgefühl von Menschen.
„Christen sind Protestleute gegen den Tod“, so hat es der schwäbische Pfarrer Christoph Blumhardt einst formuliert. Passt gut – gerade zu uns, die wir uns Protestanten nennen. Gegen den Tod protestieren heißt das Leben lieben – das ewige Leben und das zeitliche. Sich die Lebensgemeinschaft mit Gott gefallen lassen, die uns selbst im Tod trägt. Und sich mit Christus, dem Lebendigen verbünden gegen alle, die den Tod verherrlichen und die Macht der Gewalt.
Aufstehen und Einspruch erheben, wo immer das Leben bedroht ist und die Würde der Schwächsten mit Füßen getreten wird. Ja, Protestleute werden gebraucht in diesen Zeiten, wo eine rechtsextreme Partei mit Hass gegen Minderheiten auf Stimmenfang geht und sich die Demokratien in Europa durch autoritäre Ideologien und eine kriegerische Bedrohung in Frage gestellt sehen wie schon lange nicht mehr.
Protestleute werden gebraucht – und, Gott sei Dank, es gibt sie und es werden immer mehr, die seit den letzten Monaten auf die Straße gehen. Manchmal sind es die kleinen, trotzigen Hoffnungszeichen des Lebens und der Liebe, die dem Tod nicht das letzte Wort gönnen: Salböl, Nelken, Kerzen und Blumengraffitis. Die Frauen waren die ersten.
„Das Ei unter Druck“ titelt die ZEIT in ihrer aktuellen Ausgabe. „Das Ei macht Druck“, hieß es vor drei Jahren in Myanmar, als Tausende gegen die regierende Militärjunta auf die Straßen gingen. In ihren nach oben gestreckten Händen hielten sie bunte Ostereier. „Gerechtigkeit muss gewinnen“ oder „Rettet Myanmar“ stand darauf. Ostereier haben im mehrheitlich buddhistischen Myanmar eigentlich keine Tradition und doch wurde diese Idee eines christlichen Aktivisten zu dem Symbol der Widerstandsbewegung. „Ostern heißt – wir haben eine Zukunft“ hieß es dazu auf Twitter.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung fühlt sich unterdessen missverstanden. Man habe gar nichts gegen Eier, im Gegenteil, das Ei sei ein Super-Lebensmittel. Die Empfehlung, nur einmal die Woche, sei aus Nachhaltigkeitsgründen erfolgt. Denn ein Ei habe eine relativ schlechte CO2-Bilanz. Aha – haben wir das auch geklärt ...
Meine Empfehlung, liebe Gemeinde lautet: Mindestens ein Ei pro Woche essen – aus Nachhaltigkeitsgründen. Vielleicht jeden Sonntag. Um uns nachhaltig daran zu erinnern, dass Steine vor Grabeshöhlen nicht unverrückbar sind und wir österliche Menschen - geliebt und geborgen sind, immer. Dass Gott uns auf der Seite des Lebens haben will, Protestleute gegen den Tod.
Und noch aus einem anderen Grund: Weil Eier nämlich ziemlich gut schmecken. Also: Frohe Ostern!
Amen.
Superintendent Florian Kunz
Predigt gehalten am Ostersonntag, 31. März 2024 in St. Nikolai.