Richtig streiten lernen

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Richtig streiten lernen

„Von Juden lernen“ – so heißt das kürzlich erschienene Buch von Mirna Funk. Die Berliner Autorin greift acht Prinzipien der jüdischen Ideengeschichte auf und lädt dazu ein, von ihnen zu lernen. Sie ist nicht die erste, die den jüdischen Meinungsstreit würdigt. Auch die jüdische Philosophin Hannah Arendt wendet das Zwiegespräch an, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. So entgeht ein Mensch der Gefahr, sich zu sehr auf eine Meinung festzulegen und andere Ansichten zu ignorieren. Auch Ideologien haben es schwerer, sich zu verbreiten. Doch wie kann das gehen? „Machloket“ ist das hebräische Wort für „Streit“, aber im positiven Sinne. Als Beispiel wird gerne der Disput zwischen den pharisäischen Lehrern Hillel und Shammai aus dem ersten Jahrhundert angeführt. Ihre Schulen verzeichnen mehr als 300 Kontroversen über Fragen des religiösen Ritus und des alltäglichen Lebens: Sind Notlügen bei Hochzeiten erlaubt? Sollen die Chanukkka-Kerzen Tag für Tag angezündet oder gelöscht werden? Meistens haben die beiden gegensätzliche Ansichten. Doch das macht nichts. Ziel ist es nicht, dass einer gewinnt oder ein Kompromiss gefunden wird, sondern dass zwei verschiedene Perspektiven auf eine Frage nebeneinander existieren und gewürdigt werden. Nach diesem Verständnis liegt die göttliche Wahrheit in einer ständigen Bewegung zwischen zwei Polen. Wahrheit ist demnach nicht greifbar, aber im Diskurs kann man ihr am nächsten kommen. Diese Idee überzeugt mich. Andere Positionen kann ich manchmal nur schwer aushalten, geschweige denn anerkennen. Fühle ich mich mit meiner Ansicht gar zu oft auf der sicheren Seite der Wahrheit? Mirna Funk schlägt vor, einen „inneren Machloket“ zu entwickeln, um unser eigenes Denken zu erweitern. „Nur, wenn wir einen Hillel und Shammai in uns tragen und gleichzeitig aushalten, können wir auch einen Hillel und Shammai im Außen aushalten.“ Ein innerer Diskurs bei einer schwierigen Frage kann mir helfen, nicht bei einer Meinung stehen zu bleiben. Er kann mir helfen, eine andere Position nicht als Angriff auf mich selbst zu sehen. Und er kann mir helfen, meine Ansicht, wenn nötig, zu erneuern.

Jan Ole Depenbrock

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