Seit vielen Jahren schon recherchiert Lena Gilhaus, Politikwissenschaftlerin und Journalistin, zu der Geschichte der Kinderkuren in Deutschland. Bedrückendes, Erschreckendes und Verdrängtes hat sie dabei entdeckt und zu Tage gebracht, zunächst in Form von Radioreportagen, und im vergangenen Jahr auch mit einem Buch und einer TV-Dokumentation. „Verschickungskinder – Eine verdrängte Geschichte“ lautet ihr beim Kiwi-Verlag erschienenes Buch, welches sie gestern Abend im Haus des Kirchenkreises vorgestellt hat. Außerdem zeigte sie, im Wechsel und im Gespräch mit Bildungsreferentin Julia Borries, Teile aus ihrer Film-Dokumentation. „Während das Buch vor allem die historischen Hintergründe der Kinderkuren sowie die damals herrschenden pädagogischen bzw. medizinischen Beweggründe darstellt, zeigt der Film vor allem, welche teils massiven Gewalterfahrungen Kinder während dieser teilweise bis zu drei Monate lang währenden Aufenthalte machen mussten“, so Gilhaus. Die Erfahrung ihres eigenen Vaters in einer Kinderkur hat sie damals bewegt, sich dem Thema zu widmen. Und sie entdeckte, dass es dazu fast keine öffentlichen Informationen zu finden gab. Erst durch den steigenden öffentlichen Druck durch journalistische Arbeit und Betroffeneninitiativen rückten Einrichtungen und Träger, dadurch auch viele evangelische Träger, sukzessive mit Informationen raus und ließen Einsicht in Akten oder Archive zu.
Der von der Erwachsenenbildung des Kirchenkreises in Kooperation mit der Buchhandlung Kapitel Zwei organisierte Abend war trotz der Schwere des Themas kurzweilig und interessant. Viele Teilnehmende im Saal des Kirchenkreises meldeten sich zu Wort und berichteten von ihren eigenen Erfahrungen in den Kinderkuren. Da das Hauptziel der Kinderkuren nach dem 2. Weltkrieg bis in die 60er Jahre vorrangig die Genesung und Erholung der Kinder war, wurden vor allem Kinder aus dem Ruhrgebiet, mit seiner dreckigen Luft durch Kohle und Bergbau, in die verschiedenen Einrichtungen in ganz Deutschland geschickt. „Die Heime wurden in oft in dünn besiedelten Gebieten oder auf deutschen Inseln betrieben, mit zu wenig Personal ausgestattet. Dadurch boten sie auch einen Ort für Machtmissbrauch und Gewalt, durch fehlende Kontrollen, überlastetes Personal – und dadurch auch für Täter*innen einfache Zugänge.“
Aber, das betont Lena Gilhaus mehrmals an diesem Abend, nicht alle Kinder hätten schlechte Erfahrungen gemacht. Für manche Kinder boten die Kuren auch einen wirklichen Ort der Erholung, wo sie aufgrund einer belasteten Situation in den Herkunftsfamilien, auch Schutz vor häuslicher Gewalt oder auch Erholung fanden.
Frank Knüfken, Präventionsbeauftragter des Kirchenkreises Recklinghausen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, hält fest: „Die Aufarbeitung der Geschichte ist auch für uns als evangelische Kirche nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie eine der wichtigen Säule der Präventionsarbeit und muss intensiver betrieben als bisher. Mit Blick auf die Erlebnisse der Betroffenen in Kinderkuren und auch dem Umgang damit ist mir wieder die Frage deutlich geworden: wie können wir bei Kirche ansprechbar und glaubhaft für Betroffene sexualisierter Gewalt werden? Das ist hier für unsere Arbeit wichtig.“
Die Dokumentation von Lena Gilhaus mit dem Titel „Verschickungskinder – Missbrauch und Gewalt bei Kinderkuren“ ist immer noch in der ARD-Mediathek verfügbar, das Buch für 24 Euro im Handel erhältlich.