Das Genderkonzept des Evangelischen Kirchenkreises Berlin Stadtmitte
Textliche Vorbemerkung:
Im folgenden Text markiert das Schriftzeichen „*“ nach grammatikalisch männlichen und weiblichen Formen sowie an der Schnittstelle von zusammengesetzten Formen, dass die Vielfalt menschlicher Formen größer ist, als es traditionelle Sprache ausdrücken kann.
Als Christ*innen sind wir von der uneingeschränkten Annahme jedes Menschen durch Gott überzeugt, die über persönliche und gesellschaftliche Beschränkungen hinaus gilt. Es ist unsere Aufgabe und Verantwortung vor Gott, den Menschen und der Schöpfung, daran mitzuwirken, dass Menschen die Ebenbildlichkeit Gottes in der ihnen eigenen Weise leben können.
Weibliche und männliche Rollenbilder und damit verbundene Erwartungen haben sich in den letzten Jahren in vielen gesellschaftlichen Bereichen gewandelt. Ebenso hat sich die Wahrnehmung geschlechtlicher Positionen durch Begriffe wie Transsexualität, Transgender oder Intersexualität vervielfältigt. Nach wie vor sind aber Menschen aufgrund der Zuschreibung von Geschlechterrollen mit Einschränkungen und Diskriminierungen konfrontiert, die sie nicht immer aus eigener Kraft verändern können. Hier gibt es Handlungsbedarf.
Als Teil der Evangelischen Kirche wollen wir in besonderer Weise diskriminierende Mechanismen und Machtstrukturen aufdecken und darauf hinwirken, dass diese in gesellschaftlichen und kirchlichen Zusammenhängen kontinuierlich abgebaut werden. Die Ausschreibung des Förderpreises Vielfalt durch den Kirchenkreis Berlin Stadtmitte dient der Unterstützung von Projekten in den nachfolgend skizzierten Handlungsfeldern.
1. VIELFALT VERSTEHEN
Es ist unser Anliegen, Denk- und Handlungsoptionen jenseits der Zweiteilung in Mann und Frau zu eröffnen und die Privilegierung von Heterosexualität und der daraus folgenden Norm der Frau-Mann Beziehung abzuschaffen. Biologisches Geschlecht (sex), soziale Geschlechterrolle (gender) und sexuelles Begehren (desire) sind Gegebenheiten, die auch der Entscheidung des Individuums unterliegen. Gender kann nicht von sexabgeleitet werden. Vielmehr geht es um eine gemeinsame Perspektive von biologischem Geschlecht und Geschlechterrolle. So kann Geschlechtlichkeit und Identität aus einer Perspektive betrachtet werden, die nicht durch „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ eingeengt wird. Denn als Identitätskategorien wie beispielsweise „Mann“, „weiß“, „heterosexuell“ etc. unterliegen Interpretationen immer einem historisch-kulturellen Kontext. Die Geschlechterrolle entwickelt sich durch das Einüben gesellschaftlich erwarteter Normen, Regeln und Verhaltensweisen. Darum ist es wesentlich, den sozialen Kontext der unterschiedlichen Geschlechter zu verstehen.
Die Bibel denkt die Würde des Mensch-Seins in Form der Ebenbildlichkeit Gottes vom Geschaff-Sein als Mensch her und nicht von gesellschaftlichen Rollenzuweisungen.
Ziel unseres Denkens und Handelns in Bezug auf die Geschlechtlichkeit des Menschen ist es, die Lebenswirklichkeit der Geschlechter Mann* und Frau* zu verstehen und zugleich über die traditionelle auf Mann und Frau fixierte Sicht hinauszuweisen. Auf diese Weise wollen wir aus Rollenzuschreibungen und –erwartungen resultierende Einschränkungen und Diskriminierungen erkennbar und veränderbar machen. Indem wir Identitätskategorien von ihrer vermeintli-chen Natürlichkeit und ihrer Prägung durch Machtverhältnisse und kulturell-gesellschaftliche Prozesse befreien, treten wir für eine gerechtere Welt ein und führen soziale Veränderungen herbei.
2. VIELFALT DEUTEN
Als Christ*innen sind wir erzählende und gleichzeitig erzählte Wesen und in diesem Sinne geschaffene Geschöpfe. Dies bedeutet, dass wir zum einen nicht nur in Geschichten verstrickt, sondern durch Gott in dessen eigene Geschichte als schöpferisch handelnde Wesen eingebunden sind. Zum anderen erkennen wir die eigene Lebensgeschichte und Existenz in den Geschichten Gottes mit den Protagonist*innen der biblischen Erzählungen. Aus dieser Perspektive können wir unsere Lebensgeschichte mit den Geschichten der Bibel in Beziehung setzen und so für unser eigenes Leben ertragreich machen. Der Blick auf den ersten Schöpfungsbericht (Genesis 1) macht deutlich, dass die Erschaffung des Menschen (adam) mit dem Zusatz „männlich und weiblich“ durch Gott den Schöpfer eher auf eine Vielfalt des Erschaffens hindeutet als auf die Beschränkung auf zwei ausschließliche Kategorien (vgl. Genesis 1,27). Von Begehren ist in diesem Zusammenhang ohnehin nicht die Rede. Das (heterosexuelle) Begehren wird erst als Konsequenz der Übertretung von Gottes Gebot erzählt (Genesis 3,16) und spielt im Hinblick auf die Erschaffung selbst keinerlei Rolle.
Und so wie der Zusammenhang von „Tag und Nacht“ im Schöpfungsbericht ein Kontinuum zwischen Dämmerung, Dunkelheit und Tageslicht darstellt, ist es eine Möglichkeit „weiblich und männlich“ analog als Identitätskontinuum zu denken.
Eine Theologie der Vielfalt bleibt fundamental mit der Person Jesu Christi verbunden. Sie fragt nach der eigenen Existenz, die durch die Geschichte Jesu geprägt ist. Das Zentrum dieser Geschichte bildet die Botschaft von der dreifachen Form der Liebe als Nächstenliebe (Leviticus 19,18), als Feindesliebe (Matthäus 5,44) und im Doppelgebot der Liebe (Markus 12,28-34). Diese Radikalität des biblischen Liebesgebotes macht gesellschaftlich vorgegebene Kategorien von Geschlechtlichkeit, Geschlechterrollen oder Partnerschaftsvorstellungen unerheblich. Vielmehr ermutigt sie, das Spektrum menschlicher Existenz im Lichte evangelischer Freiheit zu schätzen. Glaube und Kirche entstehen dort, wo Menschen vor Gott im Einklang mit sich selbst das Doppelgebot der Liebe in ihrer eigenen Geschichte und ihrem eigenen Leben verwirklichen.
3. HANDLUNGSFELDER
Die nachfolgenden Handlungsfelder stehen exemplarisch für Arbeitsbereiche, in denen die Umsetzung eines Genderkonzeptes besondere Relevanz hat. Als Querschnittsthema spielt es auch in anderen Bereichen eine wichtige Rolle und kann und soll dahingehend ausgeweitet werden.
Theologie, Spiritualität und Liturgie
Insbesondere Frauen* haben die feministische Theologie als eine Facette der Befreiungstheologie entwickelt. Feministische Theologien sind kontextuell und prozesshaft, sie lernen von der queer-Theologie und von Gender-Wissenschaften. Menschen aller Geschlechter haben sie weiterentwickelt zur geschlechterbewussten Theologie. Liturgie, Predigt, Seelsorge und Lehre, die ein einseitig patriarchales Gottesbild vertreten, schließen viele Menschen und Entfaltungsmöglichkeiten aus.
Das kritische politische Potenzial geschlechterbewusster Theologie kann Kirche und Gesellschaft stärken und kirchenferneren Menschen aller Geschlechter Zugänge zu einer sinnstiftenden Vielfalt und Lebendigkeit eröffnen. Der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte erarbeitet und erprobt theologische und spirituelle Zugänge, die der Vielfalt Ausdruck und Leben geben.
Sexualpädagogik
In unserem Kirchenkreis begegnen uns Christ*innen in ihren verschiedenen Lebensphasen mit ganz unterschiedlichen Fragen an die eigene Identität, Sexualität, Beziehung und Partnerschaft – beispielsweise als Konfirmand*innen, Eheleute, Single, Eltern, Senior*innen.
Bisher hat Theologie und Kirche zu wenig mit einem sexualpädagogisch fundierten Angebot auf die Fragen zu Sexualität, Beziehung und Glauben reagiert.
Der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte möchte Projekte unterstützen, die die Zusammenarbeit und den Austausch von Sexualpädagogik und Kirche ermöglichen.
Kinder und Jugendliche
Kinder und Jugendliche sollen innerhalb unserer evangelischen Bildungsarbeit ermutigt werden, kritisch und selbstreflexiv mit Geschlechtlichkeit, Geschlechterrollen und sexuellem Begehren umzugehen. Wenn sich Kinder und Jugendliche außerhalb festgefügter gesellschaftlicher Normen bewegen, führt sie dies häufig in widersprüchliche Erfahrungen zwischen Unterstützung auf der einen Seite und Diskriminierung und sozialem Ausschluss auf der anderen Seite. Der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte erkennt Handlungsbedarf, Kinder und Jugendliche in ihrer Suche nach vielfältiger und veränderbarer Identität zu unterstützen und zu stärken.
Frauen*
Zuschreibungen dessen, was weiblich ist, wirken sowohl gesellschaftlich als auch kirchlich und gemeindlich weiter. Mit diesen Zuschreibungen innerhalb fester Geschlechterkategorien erleben Frauen* nach wie vor auch in Kirche und Gemeinde (sexuelle) Diskriminierung und eingeschränkte Chancengleichheit. Die Tatsache, dass dies eher versteckt und häufig rein individualisiert geschieht, zeigt die Anpassungsfähigkeit dieser Mechanismen und die Notwendigkeit, grundlegend umzudenken.
Frauen* arbeiten in allen Arbeitsbereichen der evangelischen Kirche. Im Pfarramt sind mittlerweile über 50% Frauen* tätig, in pflegenden und sozialtägigen Arbeitsbereichen deutlich mehr; ebenso im Rahmen bezahlter und ehrenamtlicher Gemeindearbeit.
Der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte erkennt Handlungsbedarf und nimmt auch eigene Strukturen kritisch in den Blick. Mit dem Ziel wachsender Selbstbestimmung werden wir am Abbau der genannten Ungleichheiten zum Beispiel durch Coaching, Begleitung und Unterstützung von Frauen* arbeiten.
Männer*
Aus der Wahrnehmung der Männerarbeit sind die Gleichstellungsbemühungen häufig nur Anliegen von Frauen*. Es gibt im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte zwei traditionelle Männerkreise und eine Vater-Kind-Gruppe. In der landeskirchlichen Männerarbeit gibt es zudem die Arbeitsgemeinschaft „Handwerk und Kirche“, die in unserem Kirchenkreis projektartig vertreten ist.
Im Zuge des Neudenkens von Geschlechterrollen bedarf es eines Neuansatzes in der Männerarbeit. Dabei müssen Männer explizit Teil dieser Prozesse werden. Aktivitäten werden gemeinsam mit Frauen* und Menschen, die sich nicht als Mann* oder als Frau* definieren, auf den Weg gebracht.
Der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte sieht, dass Fragen zu den Themen „Gleichstellung“ und „Zuschreibungen von Männlichkeit“ überprüft und teilweise neu gestellt werden müssen.
LesbianGayBisexualTranssexualTransgenderIntersexualQueer*
Lesben und Schwule sind in Teilen der Strukturen des Kirchenkreises Berlin sichtbar, erfolgreich und akzeptiert. Unmittelbare, alltägliche Herabsetzungen sind mittlerweile selten, aber verletzende Diskriminierungen sind unterschwellig noch immer verbreitet. Diese – teilweise vordergründige - Akzeptanz besteht aber noch kaum für Inter* und Trans* Menschen. Im Konfliktfall werden Homophobie und Geschlechternormativität als vermeintliches Argument gegen LesbianGAYBisexualTranssexualTransgenderIntersexualQueer (LGBTTIQ)* verwendet.
Nicht nur im Hinblick auf Akzeptanz und Respekt sieht der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte nach wie vor Handlungsbedarf, sondern auch in der Aufklärung vermeintlich Nicht-Betroffener und in der gleichberechtigten Einbeziehung aller.
4. FÖRDERPREIS VIELFALT
Der Evangelische Kirchenkreises Berlin Stadtmitte schreibt einen Förderpreis aus, der Projekte unterstützt, die sich für Vielfalt in den vorgestellten Handlungsfeldern engagieren.
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