
Abschiednehmen ist zugleich immer auch ein Versuch der Annäherung. Wie durch dieses Lied, von dem Christa Treichel wünschte, dass es bei ihrer Trauerfeier gesungen würde: "Christ ist erstanden" (Gesangbuch Nr. 99).
Ostern ist jetzt. Ostern ist das einzige Licht, das den Moment der Trauer und der Erinnerung erleuchtet… Gerade jetzt.
Christa Treichel hat sich dieses österliche Jubellied zu ihrer Trauerfeier gewünscht. Alle Lieder, die wir heute gemeinsam singen. Nur die Ansprache hat sie nicht entworfen. Aber das Bibelwort der Ansprache hat sie bestimmt. Einen Vers aus dem Psalm 90. Der Psalm, der so oft während einer Trauerfeier gelesen wird. Aber nicht der Vers, den Christa Treichel für ihre Feier gewählt hat, und der die Bitte für ihren Tag und für ihr Leben gewesen ist:
Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.
Bis zu diesem Vers spricht der Psalm 90 von der Vergänglichkeit des Lebens. Aber in diesem Vers geht es über diese Spanne zwischen Geborenwerden und Tod. Von welcher Speise leben wir? Eine Speise, die satt macht und an der wir nicht verhungern. Sättige mich mit deiner Gnade. So ist Zeit zu rühmen, zu verkündigen, predigen, Zeugnis zu geben und fröhlich zu sein.
Fröhlich sein, dass ist so eine indirekte Art der Verkündigung. Eine ganz unaufdringliche Weise des Predigens. Dem will ich versuchen, in dieser Stunde nachzugehen. Eine Stunde, die ganz ihre Handschrift trägt. Wir werden noch singen das Lied „Stern auf den ich schaue“, Nun bitten wir den heiligen Geist und Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren. Lieder, die sie selber Zeit ihres Lebens begleitet hatten.
Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. (Psalm 90, 14)
Der Gemeindekirchenrat der Jeremia-Gemeinde hatte vielleicht vor 16 bis 17 Jahren eine Skulptur des Bildhauers Ludger Trautmann aus Hamburg angekauft. Eine kleine Figur aus Holz auf einem sehr hohen Sockel. Der Sockel wiederum besteht aus kräftigen Holzklötzen. Unklar, was sie darstellen. Der Künstler nannte die Skulptur: Der Hohepriester. Unsicher ist, ob er nun auf einem Stapel gelehrter Schriften steht, deren Lektüre ihn hochgelehrt machte. Oder ob dies ein aus priesterlicher Eitelkeit errichtete Aussichtsturm ist, der ihm einen genüsslichen Blick auf die Gemeinde herunter gestattete. Die Skulptur stand ganz vorne im Altarraum, auf Augenhöhe mit dem Prediger.
Für Christa Treichel war der Hohe Priester ebenfalls ein Anstoß, einer, der sie zum Reden brachte, zu dem sie aus ihrer eigenen Anschauung und Erfahrung etwas zu sagen hatte und sagen wollte. Wir verabredeten uns daher zu einer Dialogpredigt über das Hohepriestertum in unserer Kirche. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was wir gesagt haben. Aber in ihrer biographischen Erinnerungen „Du - erzähl mal“ habe ich einige Steine des Hoherpriestertums wiedergefunden, die sie auf ihrem Lebensweg gefunden hatte.
Doch sie nahm irgendwie alle diese Steine und baute daraus eine Kirche für andere, besonders eine Kirche für die Jugend als Haus der Bibel. Als wir miteinander predigten, war mir schon klar geworden: Sie hatte keine Angst vor den Hohen Priestern unter ihren Kollegen oder Brüdern, auch bewunderte sie sie nicht, und schon gar nicht war sie selber eine Hohepriesterin geworden.
Nicht sich selber rühmen, sondern den, den sie am Morgen bat, sie mit Gnade zu füllen. Der Morgen ist die Zeit Gottes. Immer schon.
Fülle uns früh mit deiner Gnade. Laß mich am Morgen hören deine Gnade, denn ich hoffe auf Dich, heißt es im Psalm 143.
Und auch der Psalm, der Luther die Anregung zu seinem Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ gegeben hat, preist den Morgen als die rechte Zeit der Hilfe Gottes.
Als Wort für die Ansprache hatte Christa Treichel übrigens noch diesen Psalmvers aufgeschrieben:
Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn. (Psalm 113, 3)
Ihre Großeltern waren Glieder der Landeskirchlichen Gemeinschaft gewesen. Ihr Vater leitete dort den Männerchor. Das bedeutete zuallererst einen einfachen Zugang, die Bibel zu lesen. Pfarrer Mende erinnerte sich, dass sie nach einer Predigt, auf die die Gemeinde ganz begeistert reagierte, verwundert fragte: Wieso denn. Ich habe doch nur das gesagt, was ich in der Bibel gelesen habe. Landeskirchliche Gemeinschaft? Nicht mein Wort - dein Wort.
Wenige Tage nach ihrer Geburt verstarb ihre Mutter. Tante Martha, die sie als Kinderfrau ersetzte, sorgte für eine gute Ausbildung: Klavier, Altblockflöte, dann auch das Lyzeum Ina Seidel. NS-nahe Schule? Bergengruen nannte die Autorin von das Wunschkind das Glückwunschkind, weil sie so gern den Führer beglückwünschte. Zu Hause war man gegen die Partei. Die zweite Frau ihres Vaters, Elisa, hatte am 9. November 1938 zu Hause gesagt: Wer mein Volk, das Volk Israel antastet, der tastet meinen Augapfel an. Immer aktuell. In den Kirchen war es in der Zeit verboten, für Juden zu beten.
Trotzdem war die Schulzeit gut. Christa Treichel spielte Theater, las in einem Schülerinnenkreis Dramen mit verteilten Rollen. Konfirmation in der Kirche des Johannesstifts. "Weil der Führer immer von der Vorsehung sprach, dachte ich, er sei Christ sei und glaube an Gott." Die Eltern redeten es ihr nicht aus, damit sie in der Schule nichts Falsches sagte?
Für ein junges Mädchen war das eine wirre Zeit, die kein Ende nahmen. Ihr Vater und Tante Martha kamen in den Nachkriegswirren um.
Abitur macht sie 1946 mit 20 Jahren. Gefragt nach ihrem Berufswunsch antwortete sie: „Wenn ich ein Junge wäre, Pfarrer.“ Heute kann man es einfach so entscheiden. Pfarrer zu werden oder ob man ein Junge ist. Damals weder noch.
Statt Theologiestudium acht Wochen Katechetenausbildung, Abschluss C- Prüfung. Danach Grundschule plus berufsbegleitende Fortbildung mit B-Prüfung.In der Prüfung fragt sie doch glatt der Generalsuperintendent Jacobi, ob sie denn nicht evangelische Theologie studieren möchte. Im Wintersemester 1948/49 ist sie dann schon an der Humboldt-Universität. Fünf Semester an der HU mit parallel zehn Stunden Religionsunterricht. Außerdem fährt sie für sechs Wochen nach England, um Erfahrungen in den englischen Freikirchen zu sammeln.
Für die Kirchliche Hochschule bekommt sie ein Stipendium. Erstes Examen 1953. Vikariat in Steglitz, S. Markus, Schwerpunkt Jugendarbeit. Vikarinnen waren damals so ungern gesehen. Das sollte sie mit dem Zweiten Examen zu spüren bekommen. Ihre Ordination am 14. August 1955 wird von Bischof Dibelius verweigert. Er ordiniere keine Frauen. Weitere Herabstufungen folgen: Sie wird keine Pastorin, nur Pfarrvikarin, darf nicht den Vorsitz im GKR übernehmen, darf keine Geschäftsführung ausüben. Nur 80% des Pfarrgehaltes. Auf dem Pfarrkonvent ist sie dann die einzige Schwester unter vielen Brüdern.
Sie wurde zur Missionaufbeauftragten ernannt, die Gemeinden in Südafrika wurden fortan ihre Leidenschaft. Sie lernte Afrikaans. Es ging voran. Den Pastorinnen wurden erweiterte Rechte zugesprochen bis zur Heirat. Mann gewonnen - Rechte verloren.
Sie hat alle Rechte behalten. In ihrer Hilfspredigerzeit, hieß damals so, war sie in Haselhorst, erste Stelle an der Dreieinigkeitskapelle, dann in der Gemeinde am Falkenhagener Feld. Auf einem Photo sieht man sie und Pfarrer Schuricht mit flottem Schritt gemeinsam aus der Kirche kommen.
Viele Jahre Osternacht mit Osterspaziergang um den Spektesee. Viele Jahre Christmette um 23 Uhr mit Lesungen, viel Gesang und Auslegung gestalteten. Jugend und Bibel immer im Zentrum. Gemeinsam wurde man älter. Pfarrer Mende erkannte die Kraft der Christmette und bat seine Kollegin, die Mette auch nach ihrer Pensionierung zu gestalten.
Als ich 2001 in die Gemeinde kam, hätte ich auch einmal diese besondere Nacht gestaltet, habe mir dann aber doch einen Platz auf einer Bank gesucht. Es war wie ein Baum, den man nicht mehr schlägt. Es war der Augenblick, in dem Weihnachten in der Gemeinde geschah. Dass ihr die schwach werdenden Augen schließlich die Christmesse untersagten, bedeutete dann ihren Abschied aus dem aktiven Leben in der Gemeinde.
Als älteste Teilnehmerin auf einigen unserer Italienfahrten hinterließ sie einen starken Eindruck auch bei einigen jüngeren Mitreisenden. Zu ihrem neunzigsten Geburtstag waren viele von uns noch einmal in einem großen Kreis um sie versammelt. Bei der einen oder anderen illustren Runde in ihrem Haus konnte ich noch dabei sein, ich erinnere mich an Zelte in ihrem Garten, an lange Tische und ihre Sorge, sich doch einmal von ihrem Haus trennen zu müssen. Das hat sie länger als möglich hinausgezögert.
Für die letzte Lebenszeit ist sie dann wieder dahin zurückgekehrt, wo für sie alles begonnen hatte. Die Großeltern hatten nahe am Spandauer Forst ein großes Haus gebaut, in der Stiftskirche war sie konfirmiert, die Buchhandlung des Johannesstifts war ihr innig vertraut. In dem sie ein Zimmer in einem Seniorenheim des Johannesstiftes bezog, schloss sich der Kreis.
Ein Kreis, der aus der Nähe betrachtet, ein sehr kleiner Kreis gewesen ist. Spandau mit einem Wort. Das hat aber nicht verhindert, dass sie einen weiten Horizont hatte. Nicht nur wegen ihrer innigen Verbindung zu Gemeinden in Südafrika, sondern wegen der Nähe und Distanz, die sie ausstrahlte. Wegen ihrer Authentizität. Aber ein ganz besonderer Grund dafür war, dass sie ihre Person immer hinter die universelle Botschaft des Christus zurück nahm. Darin wurde ihrem Gegenüber besonders deutlich, wer sie und wie unverwechselbar sie war.
Gott sei Lob und Dank. Amen.
Hartmut Diekmann
Gehalten am 27. Mai 2024, 11 Uhr auf dem Friedhof In den Kisseln.