
Ein Schilfrohr schaukelt im Wind. Es schaukelt nicht so sanft wie die anderen geraden Schilfrohre, zwischen denen es steht. Wenn es im Wind schaukelt, wirkt es unbeholfen. Kurz über der Wasseroberfläche hat es, kaum merklich, einen Knick. Wenn es allein stünde, würde es umkippen. Doch neben ihm wachsen die nächsten Halme, gegen die es sich lehnen kann, die es halten.
Es ist ein altes Bild für das Reich Gott: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Jes. 42,3)
Gott schützt, was Stärkung braucht, auch in unserem Leben. Erfahrungen, die Menschen heute machen, lassen sich in Bezug setzen zu solchen Worten aus der Bibel.
Dabei geht es um befreiende Erfahrungen. Wie ist es, wenn sich eine Art Knoten löst? Ein Leiden oder ein Kummer, der einen Menschen niedergedrückt hat, ist plötzlich verschwunden oder wie weggenommen. Einer kann wieder gerade gehen. Jemand kann sich wieder normal bewegen. Wie ist das?
Eine ehemalige Patientin einer Klinik erzählt nach erfolgreicher OP auf YouTube:
„Ich konnte nicht mehr mit Messer und Gabel essen. Ich konnte nicht mehr die Tastatur am Schreibtisch benutzen aus ´nem ganz einfachen Grunde: Weil die Finger nicht mehr das machten, was der Kopf hergab.“ (…) Dann kam sie endlich in eine Klinik, wo ihr geholfen werden konnte. Nach ihrer erfolgreichen Wirbelsäulen-OP erzählt sie freudestrahlend: „Es war ein unheimlich geiles Gefühl nach der OP aufzuwachen und dann kriegte ich ein Mittagessen schon nach ungefähr ner Stunde nach der OP und nahm mir Messer und Gabel und konnte mit Messer und Gabel essen. Also das war richtig geil. Also, das hatte ich zwei Monate lang nicht mehr machen können.“[i]
Ein Wahnsinnsgefühl, sich wieder frei bewegen können, nachdem es lange nicht ging. Hatte Gott seine Hand im Spiel oder war es pures Glück, die richtige Klinik und einen guten Arzt erwischt zu haben?
Manche Menschen sind sich sicher: In der Not hilft auch beten. Es hilft Schmerzen oder Krankenzeiten zu durchstehen. Es hilft aber auch, mit Diagnosen umzugehen, die sich nicht ändern lassen.
Ich habe eine Freundin, die nicht wieder gesund werden wird. Ihre Kraft schöpft sie aus Erfahrungen, die sie innerlich wieder aufrichten… Auf ihrem Instagramkanal „Christina auf der Spur“ lässt sie andere daran teilhaben. Sie berichtet von einer ihrer Chemos:
„Meine Chemo erlebe ich wie eine Wellenbewegung: Ich bekomme die Medikamente vormittags per Infusion, fahre nach Hause, lege mich sofort ins Bett und bin dann ungefähr eine Woche lang ausgeknockt. Ich merke, wie mein ganzer Körper kämpft. Die Welle zieht mich mit sich, drückt mich nach unten, aber zugleich auch vorwärts. Ich warte, dass die Zeit vergeht und ich wieder nach oben gespült werde. Und dann ist es soweit: Ich tauche auf aus Übelkeit, Schwächegefühl und Herzklopfen und bin wieder voll da. Und dann gehe ich klettern im Oker-Tal oder fliegen mit dem Gleitschirm auf dem Rammelsberg bei Goslar. 2 Wochen, in denen ich mich weitestgehend fit fühle. Am Felsen oder vom Gleitschirm getragen fühle ich mich ganz im Moment, so leicht und glücklich. Für den Moment gibt es keinen Krebs, keine Chemo, keine Operation, die mir noch bevorsteht. Nur Glückseligkeit, weil ich meine Lebenskraft spüre und dass ich ein Teil des großen Ganzen bin. Diese Kunst lerne und übe ich: Im Moment zu sein, das Gute voll zu genießen und dann den nächsten Schritt zu machen, aber auch nur den, ohne an das zu denken, was danach noch alles kommen mag. Ich bin so dankbar, dass es diese Welle gibt, diese vielen kraftvollen Erlebnisse und viel geschenkte gute Zeit mitten in der Chemo.“
Christina ist eine Lebenskünstlerin. Die schönen Momente, die sie aufrichten, sind wichtig, um auch die anstrengenden und schweren Tage der Krankheit zu durchstehen.
Heilwerden heißt noch mehr als nur gesund zu werden. Heilwerden meint nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Denn gebeugt wird man nicht nur, wenn der Körper krank ist oder die Wirbelsäule streikt.
Unser Predigttext für heute steht bei Lukas 13,
Als Jesus einmal am Sabbat
in einer der Synagogen lehrte,
war dort eine Frau.
Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt,
der sie krank machte.
Sie war verkrümmt
und konnte sich nicht mehr gerade aufrichten.
Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich
und sagte zu ihr:
»Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!«
Und er legte ihr die Hände auf.
Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott.
Aber der Leiter der Synagoge ärgerte sich darüber,
dass Jesus die Frau an einem Sabbat heilte.
Deshalb sagte er zu der Volksmenge:
»Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind.
Also kommt an einem dieser Tage,
um euch heilen zu lassen –
und nicht am Sabbat!«
Doch der Herr sagte zu ihm:
»Ihr Scheinheiligen!
Bindet nicht jeder von euch am Sabbat
seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los
und führt ihn zur Tränke?
Aber diese Frau hier,
die doch eine Tochter Abrahams ist,
hielt der Satan gefesselt –
volle achtzehn Jahre lang!
Und sie darf am Sabbat
nicht von dieser Fessel befreit werden?«
Als Jesus das sagte,
schämten sich alle seine Gegner.
Doch die ganze Volksmenge freute sich
über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.
Die Frau wurde von einem Geist geplagt. Was für einem Geist ist das? Er macht sie krank, heißt es. Seit 18 Jahren schon. Sie kann nicht mehr geradestehen. Manchmal sind es Lebensumstände, die einen Menschen krank machen, manchmal sogar Beziehungen, die jemanden beugen und „gefangen nehmen“. Gibt es vielleicht einen anderen Menschen, der der Frau nicht guttut? Vielleicht ihr Ehemann, bei dem sie nie ihre Meinung sagen darf? Vor dem sie sich fürchtet, dass er ihr wieder Gewalt antun könnte? Wir wissen es nicht. Nur so viel: Zu Zeiten der Bibel hatten Frauen wenig Rechte, die sie vor Unterdrückung schützen konnten. Einige hat dies sicher so gebeugt, dass sie auch krank wurden. Jesus wendet sich der Frau zu. Er segnet sie. Frauen zu segnen war zur damaligen Zeit nicht üblich. Doch Jesus setzt sich darüber hinweg. Durch den Segen richtet er die Frau auf, nicht nur körperlich, auch innerlich.
Auch Gott löst Fesseln. Er richtet auf. Schenkt neues Selbstvertrauen. Manchmal braucht es das. Zum Beispiel, wenn ein Gefühl von Schuld im Raum steht. Dabei geht es nicht darum, ob es wirkliche Schuld ist oder nur das subjektive Gefühl schuldig zu sein.
„Sie war es nicht gewohnt, über tiefere Themen zu sprechen. (…) Aber sie hatte sich vorgenommen, „die Sache“ anzugehen. „Die Sache“ war eine schwere Geschichte, die schwerste ihres Lebens. Ihr Sohn hatte sich vor 30 Jahren das Leben genommen. Nie hatte sie mit ihrem Mann nach der Beerdigung darüber gesprochen, noch mit ihren anderen beiden Kindern. Der Sohn war 19 gewesen. Sie kam aus den Selbstvorwürfen nicht mehr heraus. Was hatte sie falsch gemacht, warum hatte sie seine Not zu spät erkannt? Einige Jahre nach dem Tod ihres Sohnes war sie aus der Kirche ausgetreten. Ein so schlechter Mensch, wie sie es war, gehörte da nicht mehr hin. Das empfand sie deutlich. Der Austritt erfüllte sie nicht mit guten Gefühlen. Er war mehr Ausdruck dessen, was sie schon lange gefühlt hatte. Aber jetzt, jetzt hatte sich etwas verändert. Bei der Beerdigung ihres Mannes hörte sie Worte, die lang verschüttetes wieder aufkeimen ließen. Sie wagte den Gedanken, dass sie vielleicht doch kein so schlechter Mensch sei. Und so lud sie die Pastorin zu sich ein. Langsam, langsam öffnete sich das Gefängnis ihres Schweigens und ihrer Selbstvorwürfe. Sie erzählte. Sie erzählte so lange, bis ihr Herz leichter geworden war. Bis sie wieder anfangen konnte zu glauben, dass Gott sie vielleicht doch nicht verworfen habe und sie zu seiner Gemeinde gehören könne. Sie erlebte, wie Gott sie aus jahrzehntealten Fesseln befreite, löste.“[ii]
Sich befreit zu fühlen, tut gut. Gott verleiht Menschen neue Würde. Hilft, dass sie sich selbst annehmen können. So erlebte es auch Yemisi Ogunleye.
„Einst war sie Mobbing-Opfer, ihr wurde in Schule oder Kindergarten gesagt, sie könne nichts und werde nichts schaffen“, berichtete sie mehrfach. [iii] Wer sich das Kugelstoßen der Frauen bei Olympia angeschaut hat, hat vielleicht schon die Geschichte von Yemisi Ogunleye aus Mannheim gehört: „Ihre Mutter ist Deutsche, der Vater Nigerianer. "Ich war damals wegen der Hautfarbe meines Vaters die einzige Farbige in der Grundschule und musste unschöne Erfahrungen machen", erzählt sie. Die Klassenkameraden machen sich über sie lustig. Ihre Hautfarbe sei nicht in Ordnung und ihre Nase zu groß. Yemisi fühlt sich minderwertig. "Als Kind und junges Mädchen wusste ich noch gar nicht, wer ich bin. Ich habe es als meine Identität angenommen, was andere über mich sagten. (…) Während ihrer Kindheit hilft ihr der Sport, die Beleidigungen und Hänseleien der Schulkameraden besser zu verarbeiten"[iv] Als Jugendliche verletzt sie sich mehrfach am Kreuzband. Weil sie mit dem Sport pausieren muss, hat sie Zeit, die Kirchengemeinde zu besuchen.
"Ich war ein zurückgezogenes Mädchen. Meine Vergangenheit mit dem Mobbing in der Schule hatte mich eingeschüchtert. Ich traute mich nicht, meine Meinung zu sagen. Ich hatte viele negative Gedanken und fühlte mich verloren." Die Jugendleiterin hilft ihr aus ihrem Schneckenhaus heraus. Mittlerweile kann sie sich so annehmen wie sie ist - mit ihrer Hautfarbe, ihren Haaren und ihrer Körpergröße.“ Dabei hat ihr ihr Glaube geholfen.[v]
Auch bei dem Olympischen Spielen hilft ihr im entscheidenden Moment ihr Glaube, alle Gedanken an Leistungsdruck und Aufregung loszulassen. Vor ihrem letzten Versuch hebt sie ihre Hände empor, schickt ein Stoßgebet zu Gott und erzählt hinterher im SWR-Interview: „Ich spürte eine Ruhe, die nicht von dieser Welt war.“ Dann stößt sie die Kugel, erreicht 20 Meter und gewinnt olympisches Gold.
Geschichten, die das Leben schreibt. Wie ist deine Geschichte? Vermutlich hast du nicht bei Olympia gewonnen. Aber, hast auch du schon einmal erlebt, dass du dich in einer besonderen Situation gestärkt und aufgerichtet gefühlt hast? Oder wünschst du dir eine solche Erfahrung, dass du dich in einer bedrückenden Situation wie befreit fühlst? Du kannst Gott darum bitten. Gott löst Fesseln und richtet Menschen auf. Auch dich und mich. Amen.
[ii] Hanna Rucks, 12. Sonntag nach Trinitatis: Lk 13,10-17. Gott (er)löst; in Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe 6. Plus; hg.v. Studium in Israel e.V., Berlin 2023
[iii] https://www.tagesschau.de/inla...
[iv] https://www.swr.de/sport/mehr-...
[v] S.o.