Tagebuch vom Hessentag Fritzlar

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Tagebuch vom Hessentag Fritzlar

Erlebnis:Kirche
Der Hessentag in Fritzlar, direkt vor unserer Haustür, bot ein vielfältiges Programm- Entschied man sich für eine "Sache", musste man sich notgedrungen gegen mindestens zwei andere Vorführungen/Ausstellungen/Bühnen entscheiden. Es war unmöglich alles "mitzunehmen", auch wenn man, wie ich, jeden Tag vor Ort war. Und dann sollten die Menschen auch noch für Kirche begeistert werden?

März
Ich konnte es mir bei einem ersten Infotreffen für die Helfer schwer vorstellen. "Wir alle sind Kirche". "Wir wollen ansprechend und ansprechbar sein, ein niedrigschwelliges Angebot für die Menschen darstellen. Unser Ziel ist es, da zu sein, wo die Menschen sind." Diesen Ansatz fand ich schon mal gut. Altvertrautes sollte einmal neu betrachtet und neue Perspektiven geschaffen werden. Es würde unter anderem eine Bühne mit einer Tänzerin, Videoinstallationen, Lichteffekten und einem gemeinsamen Tanz geben. "The Rhythm of God"

Ob das funktioniert? Ein bisschen "Disco" und "Macarena" gemischt mit biblischen Texten? Einen Gottesdienst tanzen in zehn Minuten? In der altehrwürdigen Stadtkirche, auch wenn sie zehn Tage lang zur Hessentagskirche werden würde? Wieviel "Werbung" würden wir machen müssen, um die Menschen über die Schwelle zu locken?

Zunächst mussten erst einmal die Hürden der Bürokratie und der Digitalisierung überwunden werden. Von einer Akkreditierung aller Helfer und Beteiligten, wie sie zunächst im Gespräch war, wurde glücklicherweise Abstand genommen. Aber auch die Anmeldung zum sogannten "crew-tool" der Evangelischen Kirche ließ mich fast verzweifeln. (Allerdings weiß ich, dass es anderen, die technisch sicher affiner sind als ich, genauso ging.)

April
Ich schaue immer mal in besagtes Portal und meine Mails, erfuhr aber nichts Neues.

Mai
In meinem Spamordner fand ich eine Einladung zu einem zweiten Infoabend, der eine Woche zuvor stattgefunden hatte! Na, das fing ja gut an. Im Anhang befanden sich einige Dokumente und Infoblätter zur Kenntnisnahme, ich leistete Unterschriften zum Datengeheimnis, zur Veröffentlichung von Fotos und Videos, Verhaltenskodex von Mitarbeitenden usw.
Am 22. waren wir zur Preview der multimedialen Tanzshow geladen - und waren begeistert.

Die niederländische Tänzerin Merel Kappenburg "tanzte einen Gottesdienst" auf der Bühne vor dem Altar. Zunächst gab es wohlvertraute Klänge des Chorals "Großer Gott, wir loben dich" mit wunderschönen Trompetenbegleitung, im Laufe der Inszenierung legte sie den Talar achtsam zur Seite, die Musik wandelte sich und zum Schluss sprangen wir alle von unseren Bänken auf, um gemeinsam mit ihr und Reverend John Lee Hooker (auf der Videoleinwand) "when I dance it feels like heaven on earth" zu singen und zu tanzen. Dieser Song wurde extra für den Hessentag in Fritzlar komponiert.

Und ich dachte: Ja - auch das ist Kirche. Kann Kirche sein. Freude am Glauben in Bewegung. Altvertrautes und Neues, still und andächtig und laut und fröhlich.

Erlebnis:Kirche
Erlebniskirche! Und Kirche als Erlebnis. Beides!

24.05.
Da die offizielle Eröffnung erst abends stattfand, war es an diesem ersten Vormittag noch vergleichsweise ruhig. Nur wenige Besucher fanden an diesem ersten Morgen den Weg in die Hessentagskirche. Jeder durfte sich nach der Show ein kleines "Segenstütchen" mit dem bunten Logo mitnehmen, worin ein Zettelchen mit folgenden Zeilen verborgen war:

"Meine Sorge bewegst du in 
deinem Herzen gibst dem meinem
Deinen Herzton, Deinen Rhythmus
Du verwandelst meine Klage in einen
Tanz in Glaube, Hoffnung, Liebe."

Wir halfen der Diakonie ihren Erlebnis:Tisch herzurichten, schnitten Brot (glutenfrei) für die Videoinstallation TANZ Mahl! der Evangelischen Jugend Eder, das im Wechsel (immer zur vollen Stunde) mit KIRCHE TANZT! gezeigt wurde, arrangierten Blumen und Schirmständer. Ich druckte mir bei der Deutschen Bibelgesellschaft mit einer rekonstruierten Gutenberg-Drucker-Presse ein "Vater unser" und kam mit netten, engagierten Menschen ins Gesrpäch.
Wie bei jedem Fest standen Fragen im Raum wie: "Ist die Musik zu laut?" "Haben wir an alles gedacht?" "Wird es den Gästen gefallen, werden sie es weitererzählen und werden sie etwas ins Gästebuch schreiben?" "wo gibt es die nächste Erste Hilfe Station und wo Toiletten?" "Gibt es in Fritzlar eine Reingung?" (Nein, jedenfalls keine, die die Kostüme der Tänzerin zeitnah reinigt.) Sollen wir es wagen, sie selbst zu waschen, obwohl es laut Pflegeetikett nicht möglich ist? (Ja:) "Welche Besonderheiten gibt es in der Evangelischen Stadtkirche?"
Für weitere theologische Fragen und Diskussionen, aber auch für Segnungen waren rund um die Uhr Pfarrerinnen und Pfarrer zugegen. 

31.05.
Eine Woche ist vergangen. Eine Fülle von Eindrücken, Gesprächen und Begegnungen bereicherte uns alle. Konzerte und Andachten waren gut besucht gewesen, es wollten mehr Menschen in die Kirche als sie fassen konnte! Die meisten Besucher haben positives Feedback. Mehr als einmal habe ich gehört: "Das war das schönste Erlebnis auf dem ganzen Hessentag." "Toll, was alles möglich ist. Das hätte ich niemals gedacht. Wäre echt schade gewesen, wenn ich das verpasst hätte. Es stahlt so viel Lebensfreude und Zuversicht aus, das ist genau das, was die Menschen gerade brauchen."
Bei einem älteren Ehepaar beobachtete ich Skepsis in dem Gesicht der Frau, während er schon bald im "rhyth´m of god" mitklatschte und tanzte. Beim anschließenden Gespräch erfuhr ich, dass er selbst Pfarrer gewesen war und auf meine Frage, wie es ihm mit der Inszenierung ginge, überlegte er einen Moment und sagte dann: "Nun ja, schwindende Mitgliederzahlen und immer weniger Gottesdienstbesucher zeigen ja, dass der bisherige Weg auch nicht der alleinige sein kann." Von jüngeren Stimmen habe ich aber auch gehört: "Ich fand es so bemüht modern."

Egal wie man nun dazu stehen mochte, die Menschen strömten in die Kirche. Dieser Freitag war ganz anders als der eine Woche zuvor. Genau so vielfältig wie Kirchen eben sein kann.
Einer von 30.000 (!!!) Besuchern der Erlebnis:Kirche war Johannes aus Trendelburg. Er darf sich seinem Heimatort nur bis auf 50 km nähern und war nur 10 km von der Bannmeile entfernt, musste also ein wenig aufpassen.

Untergekommen bei einem Handwerkskollegen, war er auf dem Weg zum Hochzeitshaus und Museumshof, um bei der Fa. Bächt zu helfen und sich damit für die Unterkunft zu bedanken. So machte er auch Halt bei der Erlebniskirche, um die Show in der Kirche zu besuchen. Johannes war begeistert und fühlte sich auch im Kirchgarten sehr wohl. Frau Waterkamp unterhielt sich angeregt mit ihm über sein Leben und die Pfarrer aus seiner Heimatgemeinde, die sie auch kannte. Der Zimmergeselle ist einer von 600 Freireisenden, die die ganze Welt bereisen. Alle Gewerke, die auf der Handwerksrolle stehen, wie Kirchenmaler, Landwirte, Friseure, Elektriker usw. dürfen auf Wanderschaft gehen. Zurzeit sind ca. 500 - 600 in Deutschland und der ganzen Welt unterwegs. Unvorstellbar für viele: Er lebt ohne Handy, Freireisende sind nicht in den sozialen Medien aktiv oder vertreten, erklärte der Wandergeselle. Wenn er telefonieren möchte, fragt er Passanten und die lassen ihn dann Freunde anrufen, um sich in der nächsten Stadt zu treffen. Der junge Mann möchte gar nicht 3-4mal am tag hin und her schreiben, sondern sich lieber abends anderthalb Stunden mit Kollegen oder Freunden treffen, um sich "in echt" auszutauschen.

Frau Waterkamp und der Zimmergeselle Johannes vor der Kirche

Juni
Es hallt immer noch nach. Die Posaunenklänge der allabendlichen Serenaden, die Gespräche am Erlebnis:Tisch, das bunte Farbspiel der erleuchteten Kirche, das Miteinander. Am 12.06. schlossen wir den Hessentag und die Erlebnis:Kirche mit einem wunderbaren Dankeschön-Fest ab. DAs war mehr als wir erwartet hatten, denn wir hatten uns alle gern eingebracht. Dennoch war es schön zu hören, dass auch die "Planer" und "Verantwortlichen" glücklich, dankbar und bewegt über den Verlauf des Festes und unser Engagement waren.

Auch auf diese Weise kann man JA zur Kirche und Glauben sagen!

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Es gab eine solche Fülle von Erlebnissen und Begegnungen, ich habe hier nur meine ganz persönlichen aufgeschrieben (und längst nicht alle) und möchte mit den Worten der Hessentagsbeauftragten der EKKW und des Propstes des Sprengels Marbug meine Tagebuchaufzeichnungen beenden:
"Wir wünschen Ihnen und Euch, dass der Geist Gottes bleibt, der die Menschen auch auf dem Hessentag zusammengeführt, bewegt und ermutigt hat, neue Wege zu wagen. Danke, dass Sie Teil der Erlebnis:Kirche waren - und bleiben!"

Viele Grüße von Anette Wicke

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